Kirchenrecht. 367
mit großem Geschick für die Kirche Gewinn zu ziehen verstanden hatte, ein Ende zu machen und
die kirchliche Rechtslage durch Abstoßung von veraltetem, noch mehr aber durch Neueinschärfung
und Neubelebung von hintangesetztem, gelegentlich auch durch Umbildung von noch geltendem,
ja in beschränktem Maße sogar durch Neuschöpfung von durch die veränderten Zeitverhältnisse
gefordertem kirchlichen Recht zu klären. Schon zu Anfang seines Pontifikats ergingen, zu-
nächst geheim gehalten, in diesem Sinne umfassende Gesetze über die Papstwahl 2. Und bereits
unterm 19. März 1904 wurde durch das Motuproprio Arduum sane munus 3 die Neukodi-
fikation des gesamten katholischen oder, nach dem durch die Kurie festgehaltenen Sprachgebrauche,
kanonischen Rechtes angeordnet und durch die Einsetzung einer päpstlichen Kodifikations-
kommission 5 vorbereitet, und zwar im Sinne des päpstlichen Programms Omnia instaurare
in Christo, verstanden im Sinne der katholischen Uberlieferung und der oben dargelegten, durch
das Vatikanum endgültig besiegelten Verquickung von Glauben und Recht7. Seither wurde mit
Macht an dem gewaltigen Werke gearbeitet. Wie verlautet, hat 1912 ein erster und 1913 ein zweiter
und ein dritter Teil dem Episkopat zur Begutachtung vorgelegen 8, und sind andere im Entwurfeganz
oder nahezu fertiggestellt. Einzelne Gegenstände, deren Regelung entweder besonders wichtig,
schwierig oder dringend erschien, oder bezüglich welcher man erst aus der Praxis Erfahrungen
für die endgültige Gestaltung sammeln und die Aufnahme durch die Gläubigen wie durch die
Außenstehenden erproben wollte, wurden vorweg behandelt (Eheschließungsrecht, Reform der
Kurie ?, Promulgation der kirchlichen Gesetze und Erlasse, Neuordnung der Verwaltung der
suburbikarischen Bistümer, Ab= und Versetzung der Pfarrer auf dem Verwaltungswege, Neu-
einschärfung des geistlichen Gerichtsstandes, Neuordnung des römischen Vikariats u. a. 10). Dar-
nach zu schließen, wird das Hauptwerk ein durchaus konsewatives Gepräge tragen und im wesent-
lichen einfach die Errungenschaften der kirchlichen Rechtsentwicklung des 19. Jahrhunderts, an
die Gegenwart mehr oder weniger angepaßt, verzeichnen. Ob es überhaupt, ganz oder wenigstens
zum Teil, zustande kommen, und ob es, wenn in Kraft gesetzt, in der kirchlichen Rechtsgeschichte
1 8 och * Pius X., ein Bild kirchlicher Reformtätigkeit, 1907.
1 Unten & 20.
* Acta S. Sedis XXXVI, 1904 p. 549 ss., A. f. k. Kr. LXXXIV, 1904, D. Z. f. Kr. XIV,
* Der kirchliche Rechtssatz, besonders der vom allgemeinen Konzil, aber auch der vom Papst
gesetzte, wird eben auch noch heute Kanon genannt.
* Unten & 69 S. 420 A. 1 und Ruffini, La codificazione del diritto ecclesiastico,
Studi in onore di . Scialoja II, 1905; Sägmüller, Die formelle Seite der Neukodi-
fikation des kanonischen Rechts, Th. O. LXXXV, 1905; Boudinhon, De lla codification du
droit Ccanonique, Can. cont. XXVIII, 1905; Friedberg, Ein neues Gesetzbuch für die katho-
lische Kirche, D. Z. f. Kr. XVIII, 1908 (auch Leipziger jur. Fakultäts-Programm, 1907).
S. 364. Materien wie das Verhältnis von Kirche und Staat, die Konkordate u. a.
scheinen allerdings nicht kodifiziert werden zu sollen, wohl damit ein direkter Zusammenstoß mit
dem Staate und infolgedessen das Scheitern des Unternehmens vermieden wird, und weil es in
diesen Dingen doch in erster Linie auf die Abmachungen im Einzelfall ankommt.
?* Meine auf steng geschichtliche Erfassung auch der neuesten Entwicklung gegründete, schon
in der vorigen Auflage dieses Grundrisses durch die Überschrift dieses Kapitels angedeutete und in
der 1902/03 niedergeschriebenen ersten Hälfte dieses Paragraphen zum Ausdruck gebrachte Er-
wartung, daß das Vatikanum über kurz oder lang eine kirchliche Gesetzgebungsära im Gefolge
haben werde, ist durch das wenige Wochen nach dem Erscheinen meiner Darstellung erlassene
Motuproprio und durch die Gesetzgebung Pius“ X. bestätigt worden.
Al. f. k. Kr. XCIII, 1913 . 167.
* Indem Pius X. die Rota und andere Behörden, die im Laufe der Zeit wesentlich den
Secken des Kirchenstaats dienstbar geworden waren und seit dessen Untergang mehr als dreißig
re lang in Trümmern gelegen hatten, für rein kirchliche Zwecke wiederherstellte, gab er,
wenigstens durch die Tat, zu verstehen, daß er mit der Wiederherstellung des Temporales nicht mehr
ernstlich rechne, wohl aber in noch höherem Maße als seine Vorgänger gewillt sei, dessen Verlust durch
innere Kraftsteigerung und damit verbundene Erhöhung des Ansehens und Einflusses nach außen
wettzumachen. Formell und offiziell bleibt der Gegensatz von Vatikan und Quirinal fortbestehen
und muß es im Interesse beider Teile; denn besser als das italienische Garantiegeseß und alle
anderen Auskunftsmittel wahrt er für die katholische Welt die internationale Stellung des Papst-
tums und dessen Unabhängigkeit gegenüber dem italienischen Staate.
½ Falco, II novissimo diritto della chiesa cattolica, Riv. di diritto pubbl. I Nr. 5/6,
1910; Hilling, Die Reformen des Papstes Pius X., 2 Bde., 1909, 1912.
1904