368 Ulrich Stutz.
einen Schlußstein oder die Grundlage eines neuen Aufschwungs bilden wird, muß die Zukunft
lehren. Der Eindruck auf die Zeitgenossen kann nicht entscheiden. Reformen fordem immer
Widerspruch heraus. Jedoch die Klugheit vermeidet zwar die Kritik, aber nur die Tatkraft macht
Geschichte. So könnte es, zumal wenn wieder mehr politisch und diplomatisch gerichtete Nach-
folger es verständen, das durch die inneren Krisen und die Reformen gestörte Gleichgewicht
innerhalb des katholischen Erdenrunds wiederherzustellen, ohne die Errungenschaften des Vor-
gängers preiszugeben, ganz wohl geschehen, daß für die Nachwelt nicht das Pontifikat Leos X III.
zu einem Markstein der kirchlichen Rechtsgeschichte würde, sonderm das Papsttum Pius“ X.
Zweiter Titel.
Geschichte des evangelischen Kirchenrechts.
Erstes Kapitel.
Die Reformation und das deutsche Staatskirchenrecht.
§ 44. Die Zeit des reformatorischen Enthusiasmus.
Aus der Tiefe einer in schwerer Gewissensnot um ihr Heil in Christo ringenden Seele
wurde die Reformation geboren. Martin Luther, der am 10. November 1483 zu Eisleben
geborene Augustinereremit von Wittenberg, der lange vergeblich auf dem hergebrachten kirch-
lichen Weg den Frieden mit Gott gesucht, fand ihn endlich durch die Wiederentdeckung des
paulinischen Evangeliums von der Rechtfertigung allein durch den Glauben. Die von ihm
entfachte Bewegung war und blieb zunächst nur religiös. Weder eine Kirchenverbesserung
strebte Luther an, wie vor ihm und neben ihm: manche Reformer, noch stand ihm eine Er-
neuerung der gesamten, auch der theologischen Bildung im Vordergrund des Interesses, wie
den Humanisten. Freiheit für die neue, die unverfälschke Heilsbotschaft war das einzige, was
er begehrte.
v. Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation “, 6 Bde., 1881 ff., sämtl.
Werke Bd. 1—6; Janssen-Pastor, Geschichte des deutschen Volks seit dem Ausgange des
Mittelalters I—IV 1, V—VI 1, VIIVIII 1, 1897—1904; v. Bezold, Staat und Gesellschaft
des Reformationszeitalters, Hinneberg, Kultur der Gegenwart II, 5, 1, 1908, Geschichte der deutschen
Reformation (Oncken, AG. III, 1), 1890; Hermelink, Die religiösen Reformbestrebungen
des deutschen Humanismus, 1907; Berger, Die Kulturaufgaben der Reformation ", 1908;
Wernle, Renaissance und Reformation, 1912; Troeltsch, Renaissance und Reformation,
H. 3. CX, 1913; Corpus Reformatorum, bis jetzt 89 Bde.; Schriften des Vereins für Reformations-
geschichte, seit 1883, bis jetzt 102 Hefte, und Archiv für Reformationsgeschichte, seit 1903, bis jetzt
10 Bde. u. 4 Ergzsbde; Luthers Werke, Erlanger Ausgabe, z. T. in 2. Aufl., z. Z. 67 Bde.,
1867 ff., Weimarer Ausgabe, 1883 ff., bis jetzt 49 Bde. mit Ergzsbden., enthaltend Tischreden und
deutsche Bibel., Ausgabe für das deutsche Haus von Buchwald u. A.“, 10 Bde., 1905, in
Auswahl von O. Clemen, 2 Bde., 1912; Lutherbiographien von Köstlin= Kaweraut,
2 Bde., 1903; Kolde", 2 Bde., 1884—93; Lenz-', 1897; Hausrath, 2 Rde., 1903/4;
Denifle-Weiß,, 2 BDde. und 2 Ergzsbde., 1904—09; Grisar', 3 Bde., 1911/12; Boehmer:,
1910; Giffert, 1911.
Dieser Freiheit stand der Grundstock des überlieferten kanonischen Rechtes als die Ursache
des von ihm bekämpften furchtbaren Gewissensdruckes im Wege. Gegen ihn hat Luther mit
der ganzen Wucht seiner gewaltigen Persönlichkeit angekämpft. Der Ablaßhandel und die
damit verbundene Schädigung gewissen-- und emsthafter Seelsorge forderte in den 95 Thesen
vom 31. Oktober 1517 den Protest seiner gereinigten Auffassung von Buße und Heiligung
heraus. Noch läßt er die Jurisdiktion des Papstes gelten. Aber dessen Lehrgewalt will er bald
nicht mehr anerkennen. Und dann beginnt 1518 gegen ihn der Ketzerprozeß, der am 16. Oktober
dieses Jahres zu seiner appellatio a papa male informato ad papam melius informandum, seit
1 Vgl. das Gutachten Jakob Wimpfelings von 1510 über die Reform der Kirche.