384 Ulrich Stug.
Die spätmittelalterliche Anschauung von der einheitlichen Christenheit mit ihren Regi-
menten und Ständen, die entweder das weltliche Gemeinwesen der Kirche auslieferte (kano-
nisches Recht) oder die Kirche dem weltlichen Gemeinwesen (Luthertum), wird aufgegeben.
Dem Staat wird von Anfang an eine sichtbare, die unsichtbare mitumfassende Kirche zur Seite
gestellt. Sie kann mit dem Staat, wenn auch er, wie er soll, dem göttlichen Wort sich unter-
stellt und seine Obrigkeit dem rechten, d. h. calvinischen Glauben anhängt, sich verbinden
(Genfer Schrifttheokratie). Es kann aber auch, wenn der Staat sich gegen das Wort Gottes
oder seine Einrichtungen gleichgültig oder gar feindlich verhält, an die Stelle der Verbunden-
heit „ein beziehungsloses Nebeneinander“ treten. Calvins Kirche steht auf eigenen Füßen
und vermag auch ohne den Staat, ja trotz ihm auszukommen. Sie scheut in letzter Linie nicht
vor der völligen Trennung vom Staat zurück 1. Denn sie, das Königreich Christi, ist nicht bloß
die Genossenschaft, welche die zur Seligkeit Vorherbestimmten ? schon hienieden heiligt (daher
die ausgiebige Kirchenzucht !). Vielmehr stellt sie sich dar als ein sozialer Organismus (daher
ihre primäre Zuständigkeit für die Armenpflege) und als ein Gemeinwesen für sich, das selb-
ständig (daher möglichst kein Patronat!) seine Aufgabe, den Kampf gegen die Unheiligkeit
der Welt, zu erfüllen beansprucht. Als menschliche Gemeinschaft hat sie Recht und Verfassung,
und zwar eine bestimmte, allein richtige, diejenige nämlich, die Schrift und Urchristentum
kennen oder vielmehr nach Calvins Meinung kannten. Das Erfordernis der Schriftmäßigkeit
gilt bei Calvin nicht, wie bei Luther, bloß für die Lehre, sondern auch für die Organisation.
Diese besteht aus:
1. den vier Amtem der Pasteurs, Docteurs, Anciens und Diacres.
Die Pastoren, in Genf von den Geistlichen mit staatlicher Genehmigung, in der französischen
Kirche von den Provinzialsynoden gewählt, haben Wort und Sakrament zu versehen. Die
Doktoren, ohne Gemeindeamt, sind berufen, als Theologen die Schrift zu erklären, und über
die Reinheit der Lehre zu wachen; sie werden mancherorts nach zürcherischem Vorbild durch
Propheten beaufsichtigt. Die Altesten, in Genf von der befreundeten weltlichen Obrigkeit aus
ihrer Mitte ermannt, und in den französischen sowie den niederländisch-rheinischen Gemeinden
(in den letzteren nach Benennung durch die Gemeinden) kooptiert, handhaben die Kirchenzucht,
indes die Diakonen der Armenpflege sich widmen. Die beiden ersten Amter sind mit Geistlichen
besetzt, die beiden anderen, um ein Gegengewicht gegen jene zu bilden, mit Laien; alle sind
Diener Christi, alle stehen sich grundsätzlich gleich;
2. Kollegialbehörden; Consistoire, Colloque, Synode national.
In der einzelnen, als Genossenschaft gedachten Gemeinde (keine Pfarrei im katholischen
und lutherischen Sinn! treten die Altesten mit dem Pastor, in der französischen, niederländischen
und rheinischen Kirche auch mit den Diakonen zum Presbyterium oder Konsistorium zusammen,
um den Pastor zu überwachen und mit ihm unter der Kontrolle der Gemeinde die Kirchenzucht
zu üben, der sich jedes Mitglied bei der Aufnahme, also beim Ubertritt oder bei der Konfir-
mation, vertraglich unterworfen hat, jedoch nur mit rein geistlichen Mitteln (im äußersten Fall
mit dem Bann — Ausschluß vom Abendmahh), aber freilich mit der Möglichkeit einer Über-
weisung an die weltliche Obrigkeit für ein auch staatlich anerkanntes Delikt (Michael Seweto
1553 wegen antitrinitarischer Ketzerei lebendig verbrannt). In der Gemeinde gibt es außer
dem Consistoire keine Kirchenbehörde, wohl aber über ihr in Gestalt der aus Gemeinde-
vertretern, je einem geistlichen und einem weltlichen, gebildeten Regierungs kollegien
der gemischten Synoden, zunächst der Klassikalversammlungen, Colloques, für die Klassen
:1 Fr. X. Kraus hat das Richtige getroffen, als er, zuletzt in seinem „Cavour“, 1902, dessen
Prinzip Chiesa libera in stato libero durch den Neuenburger Theologen Alexandre Vinet (Biographie
von Rambert 7, 2 Bde. 1876, Schumann, 1907) auf den Calvinismus zurückführte. Siehe auch
Ruffini, Le origini elvetiche della formula del Conte di Cavour: Libera Chiesa in libero Stato,
Festschrift f. Friedberg 1908, La giovinezza del Conte di Cavour I, II, 1912.
„ Und demgemäß auch in ihren weltlichen Unternehmungen Bewährten; Weber, Die
protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, A. f. Sozialwissenschaft XX, 1905, XXI, 1906
und dagegen Rachfahl, Calvinismus und Kapitalismus, Hinnebergs Intern. Wochenschrift
III, 1909, IV, 1910, wo auch weitere Lit., aber auch wieder Troeltsch, Die Soziallehren der
christlichen Kirchen und Gruppen (— Ges. Schriften 1), 1912.