392 Ulrich Stutz.
Anwendungsfälle durch freiwillige Unterwerfung betätigt wird. Und so hat denn auch das
19. Jahrhundert, indem es, zum Teil unter energischem Widerstreben des Staates, eine Fülle
von Kirchenrecht erzeugte oder wiederbelebte, die Tatsache der Selbständigkeit der kirchlichen
Rechtserzeugung und Rechtsgeltung in ein helles Licht gestellt.
Noch jetzt stehen wir also einer Zweiheit des Rechtes gegenüber, und widmen wir uns
mit gutem Grund dem Studium der Rechte. Freilich im mittelalterlichen Sinn existiert das
jus utrumgque nicht mehr. Heute kann keine Rede mehr sein von zwei Rechten, deren eines
die geistliche und das andere die weltliche Seite eines christlichen Weltganzen beherrscht, oder
— noch besser im Sinne des Mittelalters ausgedrückt — deren eines vom geistlichen Regiment,
der Hierarchie, und deren anderes vom weltlichen Regiment, der Feudalmonarchie, getragen
wird. Wohl aber lebt die Zweiheit fort in der Weise, daß neben dem staatlichen Recht ein
Sonderrecht der kirchlichen Lebensbeziehungen steht, das jenem zwar tatsächlich, jedoch nur
in lokaler Beschränkung und nur teilweise, unterworfen sein kann, begrifflich aber und der
Haup#hag= nach auch positiv selbständig erscheint.
I. Scheurl, Die Selbständigkeit des Kirchenrechts, . XII, 1874; Stutz, Die
ürchliche Rechtsgeschichte (oben S. 279) S. 11 ff., 37 ff.; Jel i . Der Kampf des alten mit
dem neuen Recht, Heidelberger Univ.-Progr., 1 (auch Ausgew. Schriften I, 1911 S. 329 ff.).
Ist so das Kirchenrecht mit dem staatlichen Recht nicht zusammenzubringen, so darf auch.
die Unterscheidung des letzteren in privates und öffentliches Recht auf jenes nicht angewendet
werden. Nur soweit es in der erwähnten Weise ins staatliche Gebiet erhoben wird, findet die
Unterscheidung auch auf das Kirchenrecht Anwendung. Das vom Staat anerkannte kirchliche
Verfassungs- und Verwaltungsrecht nimmt an der Offentlichkeit, das vom Staat anerkannte,
die privaten Beziehungen der Kirche und ihrer Teilverbände regelnde Recht (so namentlich
manche Einrichtungen und Bestimmungen des kirchlichen Vermögensrechtes) nimmt an dem
bürgerlichen Charakter des staatlichen Rechtes teil.
Jacobson, Kirchenrechtliche Versuche II, 1833: Über den Begriff des öffentlichen Rechts.
und über das Kirchenrecht als Teil desselben.
Alles Recht und so auch das kirchliche ist positiv. Das sogenannte Naturrecht oder speziell
das natürliche, d. h. das aus der Natur der kirchlichen Lebensbedingungen sich ergebende Kirchen-
recht spielte zwar in der Literatur des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts eine große
Rolle. Auch wird ein ius divinum naturale im Sinn einer von Gott in der Natur kund-
gegebenen, mit den geoffenbarten Moralsätzen identischen Ordnung heute noch von katholischer
Seite behauptet. Beides hat gegenüber einem die geschichtlichen Tatsachen vergewaltigenden
Absolutismus, der dem Staat die ausschließliche Befähigung, Recht zu setzen, zuschrieb, zeit-
weise heilsam gewirkt. Aber all dies sogenannte kirchliche Naturrecht stellt sich, soferm man
darunter nicht einfach staatlich nicht anerkanntes, positives Kirchenrecht versteht, lediglich als
Rechtsüberzeugung oder gar nur als Rechtspostulat heraus, dem es, um Recht zu sein, an der
erforderlichen ausdrücklichen Erklärung oder stillschweigenden Betätigung gebricht, oder als
Moralvorschrift, die zwar für das kirchliche Recht bindende Richtschnur, jedoch nicht dieses
selbst ist.
Bergbohm, Zurisprubenz, und Rechtsphilosophie I, 1892; Cathrein, Recht, Natur-
recht und positives Recht ?, 1909, Naturrecht und positives Recht, St. M.-L. LXIX, 1905.
Daß und weshalb endlich Kirchenrecht, ius ecclesiasticum, und kanonisches Recht, ius
canonicum, nicht zusammenfallen, ergibt sich ohne weiteres aus unserer Darstellung der Ge-
schichte des Kirchenrechts, welche die Verengerung aufweist, die das heutige Kirchenrecht gegen-
über dem kanonischen Recht erfahren hat, aber auch die gleichzeitige Erweiterung durch das
Hinzukommen von viel neuem katholischen und dem ganzen evangelischen Recht.
8§ 55. Staat und Kirche.
Ohne organisierte Gemeinschaft kein Recht. Eine solche Gemeinschaft zwischen Staat
und Kirche gibt es nicht, weder tatsächlich noch dem Begriff nach. Das mittelalterliche unum
corpus christianum, dem imperium und sacerdotium organisch sich eingliederten, ist längst.