394 Ulrich Stutz.
Allgemeine Dorstellung der Verhältnisse von Staat und Kirche, in Marquardsens Handbuch I 1,
1883; Knitschky, Staat und Kirche, 1886; Föral, La conception de I’état d’apres I°6glise
romaine, These, 1901; Maurenbrecher, Staat und Kirche im protestantischen Deutsch-
4and, 1886; Kahl, Die Verschiedenheit der katholischen und evangelischen Anschauung von
Staat und Kirche, 1886; Rieker, Staat und Kirche nach lutherischer, reformierter, moderner
Anschauung, H. V. I, 1898, Protestantismus und Staatskirchentum, D. Z. f. Kr. VII, 1897; Kolde,
Der Staatsgedanke der Reformation und die römische Kirche, 1903:; Sägmüller, Kirche
und Staat, 1904; O. Mayer, Staat und Kirche, Hauck-Herzog, Realen yll. XVIII, 1906;
arnack, Protestantismus und Katholizismus in Deutschland, Preuß. Ibb. CXXVII, 1907;
öhler,. Katholizismus und moderner Staat, 1908; Haring, Kirche und Staat, 1907; Böcken-
hoff, Katholische Kirche und moderner Staat, 1911.
Kirchenpolitische, nicht Rechtssysteme sind auch die Denkformen, auf welche die Wissen-
schaft die verschiedenen Gestalten gebracht hat, die das Verhältnis von Staat und Kirche zu
verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen Gebieten kraft positiver staatlicher oder kirchlicher
Bestimmung annahm oder hätte annehmen sollen. Sie dienen dem Verständnis, aber — gleich
den Systemen des ehelichen Güterrechtes — vielfach auch der Auslegung sowie dem praktischen
und theoretischen Ausbau der einzelnen Festsetzungen. Und sie bewegen sich — auch darin den
Gütersystemen des Eherechts ähnlich — zwischen den beiden Extremen der Verbindung und
der Scheidung des politischen und religiösen Gebietes.
Die Einheit oder doch eine innige Verbindung streben an das der Geschichte angehörige
System des Ineinanderaufgehens beider Sphären zugunsten des Staates (Byzantinismus,
karolingische Theokratie, sächsisch-salische Kirchenherrschaft und älteres katholisches, besonders
josephinisches sowie evangelisches Staatskirchentum), fermer das System völliger Einheit zu-
gunsten der Kirche (Hierokratie des Papalsystems, abgeschwächtes Kirchenstaatstum der potestas
indirecta), das tatsächlich ebenfalls der Geschichte angehört, aber mit dem übrigen ius canonicum
von der katholischen Kirche als ruhendes Kirchenrecht weiter mitgeführt wird 1 und in der Genfer
Schrifttheokratie seinerzeit ein evangelisches Gegenstück besaß, endlich das System des christ-
lichen Staats. Das letztere, praktisch nie verwirklicht, sondern durch die Heilige Allianz von
1815 nur angeregt ?: und seit 1847 (Fr. J. Stahl, Thiersch u. a.) oft literarisch und parlamen-
tarisch verfochten, sucht sich mit dem Vorhandensein einer Mehrheit gleichberechtigter christ-
licher Konfessionen so abzufinden, daß es das Gemeinchristliche aus den verschiedenen Bekennt-
nissen und kirchlichen Einrichtungen heraushebt und zu dessen Verwirklichung den Staat ver-
pflichtet. Praktische Konsequenzen sind also z. B. Taufzwang für die Kinder christlicher Eltern,
obligatorische kirchliche Eheschließung, christliche Organisation der Schule, streng durchgeführtes
Sonn- und Feiertagsgebot und in negativer Hinsicht Verbot der Ehen zwischen Christen und
Juden und Beseitigung der Judenemanzipation, wie überhaupt Nichtchristen gegenüber zwar
eine beschränkte Toleranz, nicht aber die Einräumung politischer Rechte (aktives und passives
parlamentarisches Wahlrecht, Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Amter) statthaft erscheint.
Das System, ungeeignet, seinen Zweck, die möglichste Erhaltung christlicher Religiosität, zu
verwirklichen, und wegen der damit verbundenen Einmischung des Staates in rein religiöse
Angelegenheiten unerträglich, scheitert, von allem anderen abgesehen, schon daran, daß es ein
nichtkonfessionelles Massenchristentum, womit der Staat rechnen könnte, nicht gibt und nicht
geben kann.
Stahl, Der christliche Staat :, 1858; v. Scheurl, Der christliche Staat, in seiner S.
kr. A.; Hergenröther, Katholische Kirche und christlicher Staat, 1872; Dieckhoff, Staat
und Krrche, 1872; v. Mühler, Grundlinien einer Philosophie der Staats= und Rechtslehre
nach evangelischen Prinzipien, 1873; Thiersch, üÜber den christlichen Staat, 1875.
Von den Systemen sodann, welche die Scheidung der staatlichen und kirchlichen Sphäre
anstreben, ist das radikalste dasjenige der sogenannten Trennung von Staat und Kirche oder
1 Pius' IX. Syllabus th. 24 verwirft den Satz: Eeclesia vis inferendae potestatem non
habet neque potestatem ullam temporalem directam vel indirectam.
Der Deutsche Bund führte sein Grundgesetz allerdings unter Berufung auf die „Allerheiligste
und unteilbare Dreieinigkeit“ ein und gab sich so als offiziell christlich. Jedoch das Schwergewicht
auch für die Kirchengesetzgebung lag nicht in ihm, sondern in den Einzelstaaten, und diese gaben
sich nicht als christliche aus.