Kirchenrecht. 401
liche Gesetzgebung heworgebracht haben 1. Im Verein mit den reichsgesetzlichen Bestimmungen
stellt sich das Landesstaatskirchenrecht gegenwärtig als die vollendetste Norm in kirchlichen
Dingen dar. Denn regelmäßig vermag die staatliche Vormacht ihm auch zur Durchführung
zu verhelfen, indes das konfessionelle Kirchenrecht nur im Rahmen des staatlichen zur An-
wendung gelangen kann oder nur so weit, als es der Staat wenigstens stillschweigend duldet.
Von diesem Staatskirchenrecht muß man also ausgehen, wenn
man sich einen Uberblick über und einen Einblick in die kirchen-
rechtliche Lage im heutigen Deutschen Reich verschaffen will.
Geiger, Der kirchenrechtliche Inhalt der bundesstaatlichen Ausführungsgesetze zum BGB.,
A. f. k. Kr. LXXXI, LXXXII, 1901—02.
Seine Hauptgrundsätze aber sind:
1. Die Gewissens= oder Glaubensfreiheit. Von der am mittelalter-
lichen Zwangskirchentum festhaltenden katholischen Kirche noch heute grundsätzlich verworfen?,
aber auch der älteren evangelischen Entwicklung nicht eigentlich bekannt, ist sie eine unvergäng-
liche Errungenschaft der Aufklärung 3, bedarf jedoch zu ihrer Aufrechterhaltung, anders als einst
zu ihrer Entdeckung, nichts weniger als der religiösen Gleichgültigkeit und bildet heutzutage den
Eckstein unseres Staats- und Kulturlebens ". Sie besteht darin, daß jeder Einzelne seinen Glauben
oder den Mangel eines solchen ohne äußere, rechtliche Nachteile bekennen kann. Die notwendige
Ergänzung zur Gewissensfreiheit bildet und bisweilen mit ihr unter dem Gesamtnamen „Be-
kenntnisfreiheit“ zusammengefaßt wird:
2. Die Kultus= oder Religionsfreiheit, wonach diejenigen, die das-
selbe religiöse Bekenntnis verbindet, es in gemeinsamem Gottesdienst und in hierfür gebildeten.
Vereinigungen betätigen dürfen.
Wilda, Erörterungen und Betrachtungen über Gewissensfreiheit, Z. f. deutsches Recht X!I,
1847; Stahl, üÜber christliche Toleranz, 1855; Merkle, Die Toleranz nach katholischen Prin-
zipien, 1865; Scheurl, Das Recht des Bekenntnisses, in seiner S. kr. A.; Maassen, Neun
Kapitel (s 55); Kahl, Über Gewissensfreiheit, 1886; Cault, La liberté de conscience, 1897;
Ruffini, la libertà religiosa I, 1901; Langhard, Die Glaubens- und Kultussreiheit nach
schweizerischem Recht, 1888; v. Salis, Die Entwickelung der Kultusfreiheit in der Schweiz, 1894;
eerleder, Das Kirchenrecht des Kantons Bern’, 1896; Fehr, Staat und Kirche im Kanton
t. Gallen, 1900; Lampert, Die rechtliche Stellung der Landeskirchen in den schweizerischen
Kantonen, 1908; Seeholzer, Staat und röômisch-katholische Kirche in den paritätischen Kan-
tonen der Schweiz, 1912; Laurentius, Freiheit der Religionsübung im Deutschen Reiche,
St. M.-L. LXVIII, 1905; Jacobi, Die Bestimmungen über Gewissensfreiheit und religiöse
Duldung in den deutschen Schutzgebieten, D. Z. f. Kr. XIV, 1904; Heimerich, Die Rechts-
verhältnisse der freireligiösen Gemeinden in Preußen, 1911; onet, Maury, Reinecke,
v. Röder, Die Gewissensfreiheit in Frankreich, 1912.
Eine Reihe von praktisch wichtigen Folgen ergibt sich aus diesen beiden Grundfreiheiten.
Zunächst die Unabhängigkeit des Genusses der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom
Bekenntnis, aber auch die Zulassung des Austritts aus der einen Kirche, entweder zum Zweck
½ Ein von der Zentrumspartei des deutschen Reichstages im Jahre 1900 unternommener
und später wiederholter Versuch, durch Einbringung eines „Entwurfs eines Reichsgesetzes betreffend
die Feribelt der Religionsübung“ das Reich zu veranlassen, das Verhältnis von Staat und Kirche
von sich aus, wenn auch nicht erschöpfend, so doch in den wichtigsten Punkten zu regeln, blieb erfolglos.
Die Materialien dieses sog. Toleranzantrages siehe im A. f. k. Kr. LXXXII, 1902, LXXXIV, 1904.
: Pius'’ IX. Syllabus th. 77—79, vgl. 15—18, verwirft wie die Kultus= so auch die Gewissens-
freiheit. „Allein, wenn einmal in einem Staat mehrere Konfessionen tatsächlich und mit bestimmten
Rechten vorhanden sind und ohne zu befürchtende größere Ubel nicht mehr beseitigt werden können,
so tadelt die katholische Kirche nach den Worten Leos Xlll. die Regierungen nicht, welche dulden,
daß verschiedene Religionen im Staate bestehen“ (Sägmüller), ja, sie nimmt alle diese Freiheiten
auch für sich in Anspruch. In letzterer Hinsicht verfährt sie übrigens juristisch durchaus korrekt.
Eine Rechtsverwahrung schließt nicht aus, daß, wer den Protest erhoben hat, solange das Ereignis
oder der Zustand, gegen die der Protest sich richtet, nachwirkt, die für ihn sich ergebenden Borteile
doch in Anspruch nimmt.
Amschlagendsten zum Ausdruck gebracht durch Friedrichs des Großen berühmte Verfügung,
daß man jeden nach seiner Facon selig werden lassen müsse.
* Doch gilt sie nicht, wie in völliger Begriffsverwirrung vielach behauptet wird, auch innerhalb
der einzelnen Kirche, selbst nicht in der evangelischen, in der zwar größte Weitherzigkeit walten,
Enzyklopädie der Rechtswissenschaft. 7. der Neubearb. 2. Aufl. Band V. 26