Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Fünfter Band. (5)

486 Paul Heilborn. 
Das Landesrecht wird vom Staat für die seiner Herrschaft Unterworfenen erlassen. In 
Streitfällen entscheidet der Staat durch seine Gerichte mit verbindlicher Kraft für die Beteiligten, 
was Recht ist. Durch seine Organe erzwingt er die Erfüllung der Pflichten. Uber den Staaten 
gibt es dagegen weder eine gesetzgebende noch eine richtende noch eine zwingende Gewalt. Des- 
halb ist mitunter behauptet worden, das Völkerrecht sei kein positives Recht. Man will ihm 
nur die Bedeutung eines Naturrechts oder einer Staatenmoral zugestehen. Mit Unrecht. 
Die Leugner des Völkerrechts fassen ausschließlich das moderme Landesrecht, insbesondere 
das Privat= und Strafrecht, dessen Entstehung, prozessuale Feststellung und Erzwingung ins 
Auge. Sie übersehen aber folgendes: 1. Die gegenwärtigen Einrichtungen in den einzelnen 
Staaten sind das Erzeugnis einer geschichtlichen Entwicklung; diese aber wies in früheren Zeiten 
große Ahnlichkeit mit dem Völkerrecht auf. 2. Der Begriff des positiven Rechts darf nicht aus 
dem allein hergeleitet werden, was einzelnen Rechtsgebieten in einer Epoche hoher Entwicklung 
eigentümlich ist. 3. Auch heute ist der Staat nicht allmächtig; der theoretisch feststehende Zwang 
zur Befolgung der Rechtsnormen versagt nicht selten in der Praxis. — Die erwähnten Eigen- 
tümlichkeiten des Völkerrechts beweisen nur, daß es unvollkommener ist als andere Rechtsgebiete. 
Sie entkleiden es aber nicht der wesentlichen Merkmale des positiven Rechts. 
1. Das Völkerrecht ist positives Recht, obwohl es nicht von 
einem den Staaten übergeordneten Gesetzgeber geschaffen wird. 
Das Recht ist eine prinzipiell gerechte Regel für das Verhalten der Menschen oder Staaten zu- 
einander. Diese Definition gibt keine Antwort auf die Frage, von wem das Recht ausgehe. 
„Die Staaten selbst sind die das Völkerrecht setzenden Autoritäten und zugleich die von ihm 
verpflichteten Subjekte.“ Sie unterwerfen sich ihm freiwillig, erkennen es als bindend für ihre 
Beziehungen an, weil sie zusammen leben müssen, und weil die als gerecht aufgestellte Rechts- 
ordnung kraft ihres Inhalts für sie absoluten Wert und verpflichtenden Charakter hat. Selbst 
jede Staatsgewalt besteht nur mit und durch den Willen der Beherrschten. Die innerstaatliche 
Rechtsordnung kann deshalb auch nicht auf die herrschende Gewalt allein zurückgeführt werden. 
Diese Gewalt ist nur das von den Beherrschten anerkannte Organ zur Schaffung des Rechts. 
Das, was sie als Recht proklamiert, ist nicht um dieser Proklamation willen Recht, sonderm nur, 
weil es von denjenigen als Recht anerkannt wird, für die es maßgebend sein soll. 
Die naturrechtliche Schule erkannte hingegen als Recht nur an, was von einem maß- 
gebenden, übergeordneten Willen als Recht gesetzt war. Sie vermochte indessen nicht zu er- 
klären, warum der übergeordnete Wille die Beherrschten verpflichte. Nach ihrer Anschauung 
kann ferner ein Verein sich nie Recht setzen. Vor allen Dingen aber übersah sie, daß das Recht 
zuerst immer als Gewohnheitsrecht auftritt. Seine verbindliche Kraft schöpft das Gewohnheits- 
recht sicherlich nicht aus einem übergeordneten Willen. Wenn das Gesetzesrecht an seine Stelle 
tritt, so wird nur die Form der Entstehung geändert, aber kein neuer Rechtsbegriff geschaffen. 
Auch das Völkerrecht ist zuerst als Gewohnheitsrecht entstanden. Es ist noch jetzt zum wesent- 
lichen Teile Gewohnheitsrecht. Als solches weist es keine Unterscheidungsmerkmale vom privat- 
rechtlichen Gewohnheitsrecht auf. 
2. Das Völkerrecht ist positives Recht, obwohl es keinerich- 
tende Gewalt über den Staaten gibt. Staatsstreitigkeiten können einem 
Schiedsgericht zur Entscheidung unterbreitet werden. Diese Möglichkeit ist hier nicht in Be- 
tracht zu ziehen, denn das Schiedsgericht setzt freiwillige Unterwerfung der Parteien voraus. 
Das Urteil des staatlichen Gerichts hingegen ist ohne eine solche Unterwerfung nach allgemeinem 
Landesrecht maßgebend. 
Der Richter wendet das Recht an, aber er schafft es nicht. Das Recht muß vorhanden 
sein, ehe es ein zu seiner Klarlegung berufenes Gericht geben kann. Wohl bilden unparteiische 
Gerichte die beste Gewähr für eine unparteiische Entscheidung von Streitigkeiten, Vollkommen- 
heit ist aber nicht immer erreichbar. In der Geschichte tritt der Richter erst auf, wenn das Ge- 
meinwesen sich in die Streitigkeiten der einzelnen einmischt. Anfänglich überließ es sie privater 
Regelung; trotzdem gab es schon ein Recht. 
3. Das Völkerrecht ist positives Recht, obwohl es keine Zwangs- 
gewalt über den Staaten gibt.
	        
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