Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Fünfter Band. (5)

504 Paul Heilborn. 
der Gliedstaaten gehören. Im ersteren Fall sind die Gliedstaaten, wie bereits erwähnt, nicht- 
souverän, im letzteren beschränkt rechtsfähig. Der Bundesstaat selbst ist stets souverän, weil er 
die Kompetenzkompetenz besitzt; im Wege der Gesetzgebung kann er seine Zuständigkeit erweitern, 
auch die Wahrnehmung der auswärtigen Angelegenheiten ganz in seine Hand nehmen; er kann 
den Gliedstaaten die Völkerrechtsfähigkeit entziehen. 
4. Der Staatenstaat hat die Kompetenzkompetenz nicht ohne weiteres. Ihren 
mohammedanischen Vasallenstaaten gegenüber hat die Türkei sie mehrfach in Anspruch ge- 
nommen. Den Donaufürstentümern und Bulgarien gegenüber hatte sie sie seit 1856 bzw. 1878 
nicht; denn die Stellung dieser Vasallenstaaten war durch Verträge mit den europäischen Mächten 
geregelt. Während der Bundesstaat seinem Wesen nach aus der Vereinigung der Gliedstaaten 
zu einer neuen Person besteht, war die teilweise Eingliederung der Vasallenstaaten in die Türkei 
eine zufällige Erscheinung. Die Türkei war auch ohne ihre Vasallenstaaten eine volllommen 
rechts- und handlungsfähige völkerrechtliche Person. 
§ 9. B. Beginn und Ende der Persönlichkeit. 
Literatur. Le Normand: La reconnaissance des Etats et ses diverses applications, 
Paris 1899; Diena: Considerazioni critiche 26/35 (vgl. zu § 5); Anzilotti, Rivista 1 173/5, 4 237, 
6 1, 345; Brie: Entstehung und Untergang der Staaten, Handbuch der Politik 1 66/73. 
I. Beginn. Das Völkerrecht hat es nur mit bereits entstandenen Staaten zu tun. Es 
setzt den Staat voraus und fragt nicht, ob er auf friedlichem oder gewaltsamem Wege entstanden 
ist. Legitime Staaten gibt es nicht. Ein Staat ist entstanden, wenn ein Volk auf dem von ihm 
bewohnten Gebiet sich zu einer Verbandseinheit mit eigener Herrschermacht organisiert hat. 
Diese Tatsache bedarf der Feststellung durch die Altstaaten in Form der Anerkennung. 
a) Hat sich ein neuer Staat im Bereich der bisherigen Völkerrechtsgemeinschaft selbständig 
gebildet — aus einem Volk und auf einem Gebiet, welche bisher Bestandteile eines anderen 
Gliedes der Völkerrechtsgemeinschaft waren —, so haben die Altstaaten nur zu beurteilen, ob 
ein endgültiger Zustand geschaffen, ob die neue Organisation hinreichend gefestigt ist. Be- 
jahendenfalls ist die Anerkennung Pflicht. Bei gewaltsamer Losreißung muß der Kampf aber 
erst beendet sein. Vorzeitige Anerkennung der Aufrührer wäre unzulässige Aberkennung der 
Herrschaft des angegriffenen Staats über das von den Aufrührern in Anspruch genommene 
Gebiet. Die Einsetzung einer Regierung vollendet die Staatsgründung noch nicht. 
b) Wird im Einverständnis der beteiligten Mächte eine friedliche Staatsgründung be- 
absichtigt, so kann der zukünftige Staat für den Fall seiner Entstehung im voraus anerkannt 
werden. Diese Anerkennung wird unter einer aufschiebenden Bedingung ausgesprochen; denn 
ein Staat kann nicht auf dem Papier entstehen. 
c) Konstitutive Bedeutung hätte die Anerkennung eines Staats auf völkerrechtlichem 
Neuland; es wäre in Wahrheit Ausdehnung des Geltungsgebiets des Völkerrechts (5 3). 
Die Anerkennung erfolgt entweder ausdrücklich oder durch konkludente Handlungen: 
Aktnahme vom Regierungsantritt des Staatshaupts (§ 10 III), Abschluß von Verträgen, Ent- 
sendung oder Empfang veon Gesandten. 
II. Die völkerrechtliche Persönlichkeit erlischt: 
a) Ohne Untergang des Staats: wenn er unter Verzicht auf Völkerrechtsfähigkeit in 
einen Bundesstaat eintritt: die einzelnen Staaten der Nordamerikanischen Union im Jahre 
1787, die schweizerischen Kantone 1848. 
b) Durch Untergang des Staats. Theoretisch sind drei Möglichkeiten gegeben: Unter- 
gang des Volks, Verlust des Gebiets und Untergang der eigentümlichen Staatsorganisation. 
Praktische Bedeutung hat nur letztere Art. Sie tritt ein: 
1. kraft Vertrages: zwei Staaten schließen sich zu einem neuen, dritten Staat zusammen, 
oder der eine willigt in seine Einverleibung in den andern: Einverleibung Schottlands in Eng- 
land 1707, der hohenzollernschen Fürstentümer in Preußen 1849; 
2. kraft einseitigen Rechtsakts des Staats, der sich einen anderen friedlich oder gewaltsam 
einverleibt. Friedlich wurden Toskana, Parma, Modena von Sardinien, gewaltsam von ihm
	        
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