512 Paul Heilborn.
Die Abgabe der bindenden Erklärung bleibt den zuständigen Staatsorganen vorbehalten. Der
Vertragsschluß erfolgt entweder ausdrücklich durch Auswechslung der Genehmigungs- (Ratifi-
kations-) Erklärungen der Staatsorgane oder durch konkludente Handlungen: beiderseitiger Beginn
der Erfüllung oder Nichtanzeige der Verwerfung des Vertrags. Wurde die Auswechslung der
Genehmigungserklärungen nicht vorgesehen, so ist das Staatsorgan kraft der dem Unterhändler
erteilten Vollmacht zu unverzüglicher Mitteilung verpflichtet, falls es den Entwurf nicht ge-
nehmigt.
Den Staatsorganen bleibt es unbenommen, ihre Unterhändler zur Abgabe bindender
Erklärungen, zur Abschließung von Verträgen zu bevollmächtigen. Es kommt auch vor; im
Zweifel ist aber das Gegenteil als gewollt anzunehmen (§4, II). Der Grund hierfür liegt einmal
in der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Staatsinteressen, in der Gefahr, welche ein
Irrtum des Unterhändlers über den Inhalt der ihm erteilten Weisungen für den Staat herauf-
beschwören würde. Weiter kommt folgendes in Betracht: da es keinen Richter über den Staaten
gibt, muß jedes Staatsorgan allein beurteilen, ob sein Unterhändler sich innerhalb der ihm er-
teilten Vollmacht gehalten hat. Käme der Vertrag durch Unterzeichnung der Unterhändler
zustande, so wäre damit noch keine Sicherheit geschaffen: ein Staatsorgan könnte den Vertrag
anfechten, weil der Unterhändler die Vollmacht überschritten habe. Schließlich bedarf nach
Staatsrecht ein großer Teil der Verträge der Zustimmung der Kammern. Es empfiehlt sich
deshalb, die parlamentarische Genehmigung einzuholen, bevor dem anderen Staat eine bindende
Erklärung abgegeben wird.
Punktationen haben im Zweifel keine verbindliche Kraft. Soll ihnen eine solche zuteil
werden, so wird meist ein Präliminarertrag geschlossen. Er ist ein wahrer Vertrag und enthält
die bereits vereinbarten Grundzüge des Abkommens; nur die Ausführung der Einzelheiten
bleibt dem Endvertrage vorbehalten (5 76, III).
Die Staatsverträge werden auch als Abkommen, Ubereinkommen oder Konventionen
bezeichnet. Ein juristischer Unterschied besteht nicht.
Eine Bekanntmachung der Staatsverträge ist völkerrechtlich nicht erforderlich; sie binden
nur die Vertragsparteien und sind von diesen gekannt. Sache des Staats ist es, ob und wie
er seine Untertanen von den Bestimmungen der Verträge in Kenntnis setzen will. Staats-
rechtlich ist eine Verkündung oft geboten, weil ein Teil der Vertragsbestimmungen Gesetzes-
kraft erhalten muß.
II. Besonderer Teil.
Die völkerrechtlichen Rechte stehen dem Staat teils gegen jedermann, d. h. gegen alle
Staaten als Rechtsgenossen, teils nur gegen einen oder einzelne bestimmte Staaten zu; die
ersteren sind absolute, die letzteren obligatorische Rechte. Dementsprechend sind die absoluten
und obligatorischen Rechtsverhältnisse getrennt darzustellen.
Erstes Kapitel: Die absoluten Rechtsverhältnisse.
§ 16. A. Das Recht an der eigenen Person.
Literatur. Jiellinek: System 316/21; Heilborn: System 279/306; Pillet, Rev. Gén.
5 66, 236, 6 503; Cavaglieri: I diritti fondamentali degli Stati nella società internazionale, Padua
1906; Diena: Considerazioni critiche 35/44; Erich Kaufmann: Das Wesen des Völkerrechts und
die clausula rebus sic stantibus 193/204.
Jeder Staat hat Anspruch darauf, daß alle anderen Staaten sich einer Verletzung seiner
Person enthalten, jeden Angriff gegen ihn selbst, seine Bestandteile, Organe und Vertreter
unterlassen. Zu den Angriffen gehören auch die Beleidigungen und Achtungsverletzungen.
Die Norm, welche den Angriff untersagt, tritt außer Kraft:
1. wenn ein Staat ein Recht zum Eingriff in die Sphäre eines anderen erworben hat,
2. wenn und soweit das Völkerrecht die Selbsthilfe gestattet.