Völlerrecht. 521
e) durch Erwerb einer Schutzherrschaft über einen eingeborenen Stamm oder eine
Kolonialgesellschaft (vgl. 8 7). Der Schutzvertrag verpflichtet den Staat zum Schutz des
Stammes gegen andere Staaten, folglich darf er die Okkupation des vom Stamm bewohnten
Landes durch andere Staaten nicht dulden. Er selbst kann okkupieren, sofern er die dem
Stamm zugesagten Freiheiten unangetastet läßt; hierdurch begründet er ein staats- oder
kolonialrechtliches Protektorat. Dagegen können die aus dem Schutzvertrag erworbenen Rechte
ebensowenig wie das Vorrecht auf Okkupation einem anderen Staat übertragen werden: der
Stamm hat sich in den Schutz dieses einen Staats begeben, nur ihm persönlich Rechte zu-
gestanden. Das Deutsche Reich hätte deshalb seine Schutzherrschaft über Witu an England
nicht abtreten dürfen; Art. 2 des Vertrags vom 1. Juli 1890 (Staatsarchiv 51 151).
Alss im Staat gebildete und von ihm anerkannte Gesellschaften stehen die Kolonialgesell-
schaften wie die einzelnen Staatsangehörigen völkerrechtlich unter dem Schutz des Heimat-
staats. Das ohne staatlichen Auftrag auf staatenlosem Gebiet von ihnen erworbene Land kann
aber noch von einem anderen Staat okkupiert werden; nur muß dieser die erworbenen Privat-
rechte der Kolonialgesellschaft anerkennen und schützen. Anders verhält es sich, wenn der Heimat-
staat die Kolonialgesellschaft samt ihren Erwerbungen seinem Protektorat unterstellt. Das ist
durchaus die Regel und zulässig, solange kein anderer Staat das betreffende Land okkupiert
oder ein Vorrecht auf Okkupation an ihm erworben hat. Durch Unterstellung der Kolonial-
gesellschaft unter sein Protektorat erklärt der Heimatstaat: er wolle die Gesellschaft nicht nur
in ihren Privatrechten und in ihrer Erwerbstätigkeit schützen, sonderm er betrachte das von ihr
erworbene Land als seine staatliche Interessensphäre, werde daher eine Okkupation seitens anderer
Staaten nicht dulden. Ihm selbst ist die Okkupation wiederum unverboten. Zu nennen sind
die zahlreichen englischen und die deutschen Kolonialgesellschaften. Letztere nehmen jetzt nur
noch eine privatrechtliche Stellung ein.
Das aus beiden Arten des Protektorats hergeleitete Vorrecht auf Okkupation ist anderen
Staaten gegenüber jedenfalls dann erworben, wenn die Begründung des Protektorats an-
gezeigt und ohne Widerspruch geblieben ist. Bei Protektoraten an den Küsten des afrikanischen
Festlands ist die Notifikation nach Art. 34 der Kongoakte unerläßlich.
8 23. e) Verlust der Gebietshoheit.
Der Verlust der Gebietshoheit tritt ein:
1. durch Gebietsabtretung (§ 21);
2. durch Emanzipation: Abfall eines Teils der Bevölkerung und Gründung eines neuen
Staats. So haben die europäischen Staaten fast alle amerikanischen Kolonien verloren;
3. durch Besitzaufgabe. Bei unfreiwilliger Entsetzung durch Eingeborene geht die Gebiets-
hoheit erst unter, wenn der Entsetzte sich beruhigt, nach Kenntnisnahme die Mittel zur Wieder-
erlangung des Besitzes nicht ergreift. Ist er hierzu zurzeit nicht imstande, so muß er anderen
Staaten gegenüber seine Rechte sich ausdrücklich vorbehalten, widrigenfalls Verzicht angenommen
wird. Die stillschweigende Entgegennahme der Notifikation hindert dagegen andere Staaten,
sich ihrerseits in Besitz des jenem entrissenen Landes zu setzen; die Regeln über die Aufkündigung
einer Anerkennung (§ 22 Z. 3) finden auch hier Anwendung. — Faschodastreit zwischen England
und Frankreich 1898.
C. Das NRecht in Ansehung der Menschen.
I. Allgemeine Lehren.
8 24. 1. Die Staatsangehörigkeit.
Literatur. v. Gerber: Grundzüge des deutschen Staatsrechts (3), 45 ff., 225 ff.;
Jellinek: System der subjektiven öffentlichen Rechte (2); Bendix: Fahnenflucht und Verletzung
der Wehrpflicht durch Auswanderung, Leipzig 1906; Sleber: Das Staatsbürgerrecht im inter
nationalen Verkehr, 2 Bde., Bern 1907; Bisocchi: Acquisto e perdita di nazionalitaà nella legi
lazione comparata e nel diritto internazionale, Mailand 1907; Isay: Die Staatsangehörigke Jit