Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Fünfter Band. (5)

Einleitung. 
8 1. Begriff und Begründung des Strafrechts, Begrenzung des Themas, 
Quellen des geltenden Rechts. 
Die Strafrechtswissenschaft hat Verbrechen und Strafe in ihrer begrifflichen Allgemein- 
heit darzustellen. Damit ist der Gesichtspunkt gegeben, durch den sie sich von anderen Wissen- 
schaften, die sich mit dem gleichen Gegenstande beschäftigen, unterscheidet. Dies sind insbesondere 
Kriminalsoziologie, welche Verbrechen und Strafe vom Standpunkt des gesellschaftlichen Lebens 
betrachtet, Kriminalanthropologie Imit den Unterarten Kriminalphysiologie, Kriminalpsychologie, 
Kriminalanatomie!, welche in dem Verbrechen eine Erscheinung des individuellen Lebens sieht, 
und Kriminalpolitik, für welche das Verbrechen eine staatsgefährliche Handlung und die Strafe 
nur eines der Mittel zu ihrer Bekämpfung ist. Diese drei Wissenschaften sind, ebenso wie 
Geschichte, Philosophie, gerichtliche Medizin, unentbehrliche Hilfswissenschaften des Strafrechts 
und lassen sich mit ihm zu einer Kriminalwissenschaft vereinigen. Aber sie gehören zu der Straf- 
rechts wissenschaft weder im engeren noch im weiteren Sinne, da ihnen die Wesenseigen- 
tümlichkeit der Rechtswissenschaft fehlt. 
Deshalb muß auch jede Strafrechtstheorie, welche sich nur auf jene Hilfswissenschaften. 
stützt und damit den Schwerpunkt aus dem Gebiet, für das sie gelten will, verlegt, des sicheren 
Fundaments entbehren. 
Strafrechtstheorien hat man aufgestellt, um die Strafberechtigung des Staates 
(d. i. das Strafrecht im subjektiven Sinne, im Gegensatz zum Strafrecht im objektiven Sinne — 
Strafrechtsregell, die Herkunft der Strafe und die obersten Strafprinzipien zu bestimmen. 
Hierüber besteht eine Menge verschiedener Ansichten, mit deren Begründung man zum 
Teil weit über das juristische Gebiet hinaus und in die spekulative Philosophie eingreift. Daß 
der Staat ein Recht hat zu strafen, ist für den Juristen, der überhaupt erst unter dieser Voraus- 
setzung an seine Aufgabe herantritt, ein Axiom, das keines Beweises bedarf. Ebenso ist es für 
ihn müßig, die Herkunft der bei allen Völkern tatsächlich bestehenden Strafe beweisen zu wollen. 
Diesen Beweis muß er anderen überlassen und sich mit einer, wenn auch nur hypothetischen, 
Erklärung begnügen. 
Die einfachste Erklärung dürfte zu einer Ableitung der Strafe aus dem Rachetrieb führen. 
Das Dasein des einzelnen Lebewesens rechtfertigt die zur Befriedigung seiner Bedürfnisse nötige 
Tätigkeit und darum auch die Reaktion gegen Störung derselben. Aber das Individuum ver- 
zichtet auf eigene Ausübung des Racherechts, sobald es sich mit anderen Individuen zu einem 
jedes von ihnen schützenden Gemeinwesen zusammenschließt. Alsdann geht die Ausübungs- 
befugnis stillschweigend auf eine Zentralgewalt über, welche durch die Massenübertragung eine 
Macht nach außen und innen wird derart, daß sie nunmehr auch das einzelne Mitglied des Ge- 
meinwesens unter ihren Willen zu beugen vermag. Die Strafe als ein diesem Zweck dienendes 
Mittel ist also eine Außerung der dem Staat übertragenen Ausübung des Racherechts. 
Mit dieser Hypothese wäre die Strafe an sich, aber noch nicht ihre Art und ihr Maß be- 
gründet. 
Welche Prinzipien bei ihrer Bemessung zu beobachten sind, ist die einzige Frage, welche 
mit Fug und Recht im Rahmen der Strafrechtstheorien erörtert zu werden pflegt. Im großen 
und ganzen lassen sich hierüber zwei Gruppen von Ansichten unterscheiden. Der einen erscheint 
die Strafe als Vergeltung für das verbrecherische Tun (punitur quia peccatum est), die 
andere will die Strafe von den Zwecken abhängig machen, die mit ihr erreicht werden sollen 
(punitur ne peccetur). Jene legt also einen absoluten, diese einen relativen Maßstab an. 
 
	        
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