Abschnitt XIX.
Das Enteignungs-Gesetz.
Gesetz über die Enteignung von Grundeigenthum!).
Vom 11. Juni 1874 (G. S. S. 221).
Titel I. Zulässigkeit der Enteignung.
§. 1. Das Grundeigenthum?) kann nur aus Gründen des öffentlichen
Wohles für ein Unternehmen, dessen Ausführung die Ausübung des Ent-
eignungsrechtes erfordert, gegen vollständige?) Entschädigung entzogen") oder
beschränkt werden.
1) Kommentare von Seydel, Berlin, 2. Aufl. 1887; Löbell, Leipzig 1884; Eger,
Breslau 1887.
2) Auch wenn es dem Staate, Kommunalverbänden, Kirchengemeinden u. s. w.
gehört. Veräußerungsverbote, mögen sie auf privatrechtlichem oder öffentlich-rechtlichem
Titel beruhen, haben der Enteignung gegenüber keine Wirksamkeit.
Auch Grundstücke, die selbst im Wege der Enteignung erworben sind, unterliegen
der Enteignung. Die sich etwa entgegenstehenden Interessen des älteren und neueren
Unternehmens müssen bei der Planfeststellung gegen einander abgewogen werden.
Vergl. Rekursbesch. d. Min. f. H. 18. Juni 1877 und 15. Nov. 1878 bei Seydel
S. 19, 21.
*:) „Vollständige Entschädigung“ bezeichnet den Ersatz aller Bermögensnach.
theile, welche Jemand in Folge eines beschädigenden Ereignisses erleidet, mit
anderen Worten aller Vortheile, welche ihm durch dasselbe entzogen sind, mit
Einschluß des entgangenen Gewinns, die Vergütung seines gesammten, wenn schon
nur objektiv (ohne Rücksicht auf bloßen Affektionswerth) zu bestimmenden Interesses.
— Unter „vollem Werth“ als Gegenstand vollständiger Entschädigung ist danach der
Inbegriff jener Vortheile zu verstehen, im Gegensatz zu dem beschränkteren gemeinen
der höhere individuelle Werth, welchen die enteigneten Gegenstände für ihren
damaligen Eigenthümer vermöge seiner besonderen Verhältnisse hatten, das volle
(objektiv bestimmte) Interesse eben dieses Eigenthümers. — Es liegt in der be-
sonderen Natur einer Beschädigung durch Sachentziehung, daß dabei der Werth der
Sache in erster Linie berücksichtigt und der Regel nach als ausreichender Ersatz
für den Eigenthümer angesehen wird. Ein Anspruch auf weitere Entschädigung be-
darf deshalb immer besonderer Begründung und Klarstellung. — Das Enteignungs-
Gesetz bezeichnet als beschädigendes Ereigniß lediglich „die Abtretung des Grund-
eigenthums“ (5. 8 Abs. 1) und daher als Gegenstand der Vergütung nur die
nachtheiligen Folgen der Enteignung (§. 31 Abs. 1). Als Folgen derselben
(als damit ursächlich zusammenhängend) können aber immer nur solche Nachtheil:
angesehen werden, welche ohne die Enteignung erweislich nicht eingetreten
wären. Das Enteignungsgesetz sichert dem Eigenthümer keinen Ersatz für Nach-
theile des betreffenden Unternehmens zu, wenn diese ohne die Enteignung in
derselben Weise eingetreten wären, Erk. R. G. 23. Mai 1881 (Arch. f. Eisenbahnwesen
1881 S. 510).