50 Abschnitt II. Die Preußische Verfassung.
Die Prüfung der Rechtsgültigkeit gehörig verkündeter!) Königlicher Ver—
ordnungen steht nicht den Behörden, sondern nur den Kammern zu.
Artikel 107. Die Verfassung kann auf dem ordentlichen Wege der
Gesetzgebung abgeändert werden, wobei in jeder Kammer die gewöhnliche ab-
solute Stimmenmehrheit bei zwei Abstimmungen, zwischen welchen ein Zeitraum
von wenigstens ein und zwanzig Tagen liegen muß, genühgt.
Artikel 108. Die Mitglieder der beiden Kammern:) und alle Staats-
beamten leisten dem Könige den Eid der Treue und des Gehorsams und be-
schwören die gewissenhafte Beobachtung der Verfassung.
Eine Vereidigung des Heeres auf die Verfassung findet nicht statt.
Artikel 109. Die bestehenden Steuern und Abgaben werden forterhoben,
und alle Bestimmungen der bestehenden Gesetzbücher, einzelnen Gesetze und
Verordnungen, welche der gegenwärtigen Verfassung nicht zuwiderlaufen, bleiben
in Kraft, bis sie durch ein Gesetz abgeändert werden.
Artikel 110. Alle durch die bestehenden Gesetze angeordneten Be-
Wen bleiben bis zur Ausführung der sie betreffenden organischen Gesetze in
ätigkeit.
Artikel 111. Für den Fall eines Krieges oder Aufruhrs können bei
dringender Gefahr für die öffentliche Sicherheit die Artikel 5, 6. 7, 27, 28,
29, 30 und 36 der Verfassungs-Urkunde zeit= und distriktsweise außer Kraft
gesetzt werden. Das Nähere bestimmt das Gesetz?).
Uebergangsbestimmungen.
Artikel 112. Bis zum Erlaß des in Artikel 26 vorgesehenen Gesetzes
bewendet es hinsichtlich des Schul= und Unterrichtswesens bei den jetzt gelten-
den geietzichen Bestimmungen. »
rtikel 113. Vor der erfolgten Revision des Strafrechts wird über
Vergehen, welche durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung be-
ganggen werden, ein besonderes Gesetz ergehen.
[Der Artikel 114 ist aufgehoben (s. Note zu Art. 42)1.
Artikel 115%). Bis zum Erlasse des im Art. 72 vorgesehenen Wahl-
gesetzes bleibt die Verordnung vom 30. Mai 1849, die Wahl der Abgeordneten
zur zweiten Kammer betreffend, in Kraft. Z " "
Artikel 116. Die noch bestehenden beiden obersten Gerichtshöfe sollen
zu einem Einzigen vereinigt werden. Die Organisation erfolgt durch ein be-
sonderes Gesetz). *r#
Artikel 117. Auf die Ansprüche der vor Verkündigung der Verfassungs-
urkunde etatsmäßig angestellten Staatsbeamten soll im Staatsdienergesetz be-
sondere Rücksicht genommen werden.
Artikel 118. Sollten durch die für den deutschen Bundesstaat auf
Grund des Entwurfs vom 26. Mai 1849 festzustellende Verfassung Abän-
derungen der gegenwärtigen Verfassung nöthig werden, so wird der Köni
dieselben anordnen und diese Anordnungen den Kammern bei ihrer nächsten
Versammlung mittheilen. Z
Diese Kammern werden dann Beschluß darüber fassen, ob die vorläufig an-
geordneten Abänderungen mit der Verfassung des deutschen Bundesstaats in
Uebereinstimmung stehen.
1) Die Frage der gehörigen Verkündigung untersteht richterlicher Prüfung, Erk.
3. Febr. 1871 (Strieth. Arch. LXXXI. 110). Reichsgesetze kann der Richter frei
prüfen; ebenso Polizeiverordnungen, §. 17 Ges. 11. März 1850 (E. O. V. IX. 363).
2) Widrigenfalls sie von den Verhandlungen ausgeschlossen werden, Sten. Ber.
v. H. 1855/56 Aul. S. 25, A. H. 1869/70 S. 562.
3) Ges. 4. Juni 1851 (G. S. S. 451) über den Belagerungszustand.
1) Das Wahlgesetz ist noch nicht erlassen und die Vd. 30. Mai 1849 (unten
S. 58 ff.) vorläufig in Kraft geblieben, derzufolge das altive Wahlrecht mit dem
vollendeten 24., das passive mit dem vollendeten 30. Lebensjahre beginnt. Vergl.
übrigens das zu Art. 71 abgedruckte Ges. 29. Juni 1893 (G. S. S. 103).
*) Vergl. Anm. zu Art. 92.