Abschnitt IX. Unterbringung verwahrloster Kinder. 683
heit der strafbaren Handlung!), auf die Persönlichkeit der Eltern oder sonstigen
Erzieher des Kindes und auf dessen übrige Lebensverhältnisse zur Verhütung
weiterer sittlicher Verwahrlosung erforderlich ist.
§. 2. Die Unterbringung zur Zwangserziehung erfolgt, nachdem das
Vormundschaftsgericht durch Beschluß den Eintritt der Voraussetzungen:) des
1 unter Bezeichnung der für erwiesen erachteten Thatsachen festgestellt und
ie Unterbringung für erforderlich erklärt hat ?).
§. 3. Das Vormundschaftsgericht beschließt von Amtswegen oder auf
Antrag. Die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, dem Vormundschaftsgerichte
von den im F. 1 bezeichneten strafbaren Handlungen, welche zu ihrer Kenntniß
gekommen sind, Mittheilung zu machen.
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1) Wenn durch das eingeleitete Verfahren lediglich die Thatsache festgestellt ist,
daß die betreffenden Kinder gebettelt und ihre verarmten Eltern sich außer Stande
gesehen baben, sie zu ernähren, so ist eine sittliche Verwahrlosung unverkennbar nicht
als genügend dargethan zu erachten. Die angeordnete Zwangserziehung entspricht in
solchen Fällen nicht der Absicht des Gesetzgebers, und sie hat — selbst wenn dadurch
das Recht der Eltern oder ihrer Vertreter auf Leitung der Erziehung wegen nicht
erfolgten Widerfpruches dieser Personen nicht als verletzt gelten kann — die noth-
wendige Folge, daß die Kosten der Erhaltung der Kinder den Provinzialverbänden an
Stelle der zur Gewährung der erforderlichen Armenunterstützung verpflichteten
Gemeinden zur Last fallen. Es ist deshalb bei Prüfung der Frage, ob wegen Bettelei
bestrafte Kinder als verwahrloste auf Grund des Gesetzes unterzubringen seien, be-
sonders zu erwägen, inwiefern eine sittliche Verwahrlosung solcher Kinder im Sinne
dieses Gesetzes anzunehmen, und ob nicht etwa die Veranlassung zum Betteln darin
zu suchen sei, daß den Kindern und deren Eltern die zum nothwendigen Lebensunterhalt
unentbehrlichen Armenunterstützungen vorenthalten werden. Sollte sich ergeben, daß
die Gemeindebehörde in der letzteren Beziehung ihrer gesetzlichen Verpflichtung nicht
nachgekommen ist, so empfiehlt es sich, daß die Vormundschaftsgerichte den vorgesetzten
Verwaltungsbehörden davon geeignete Mittheilung machen, Res. 17. April 1885
(M. Bl. S. 187).
2) Der Justizminister hat angeordnet, daß die Vormundschaftsgerichte bei Auf-
nahme der Verhandlungen zur Feststellung der vorhandenen Verwahrlosung, soweit
als möglich alle Momente in den Kreis ihrer Untersuchung zu ziehen haben, welche
den unterbringenden Behörden einen Anhalt zur Beurtheilung des Charakters und
der bisherigen Führung der betreffenden Kinder gewähren. In den Vorverhandlungen
soll ferner jedesmal die Konfession der Kinder konstatirt werden, auch sind die
Vormundschaftsgerichte angewiesen worden, den Untersuchungsakten bei der Ueber-
sendung an die Kommunalverbände die Vormundschaftsakten beizufügen, Res. 24. Sept.
1885 (M. Bl. S. 209).
Die Anträge auf Unterbringung verwahrloster Kinder sind von den Vormund-
schaftsgerichten stets als schleunige Sachen und eintretenden Falles als Feriensachen zu
behandeln, Res. 27. April 1881 (J. M. Bl. S. 81).
Die örtliche Zuständigkeit der Vormundschaftsgerichte für das Verfahren beie
Unterbringung eines bisher nicht bevormundeten Kindes zur Zwangserziehung wird
bestimmt durch den Wohnsitz des Vaters zu der Zeit, in welcher die Voraussetzungen
der Unterbringung für soweit vorhanden anzunehmen sind, daß das Vormundschafts-
gericht einzuschreiten hat, nicht durch denjenigen zur Zeit der Begehung der strafbaren
Handlung oder von dieser Seitens der Staatsanwaltschaft gemachten Mittheilung,
Erk. 18. Nov. 1889 (E. K. IX. 56).
6:) Der Beschluß auf Unterbringung zur Zwangserziehung hat entweder schlechthin
die Unterbringung für erforderlich zu erklären oder alle gesetzlich zulässigen Arten der
Unterbringung wahlweise zu nennen und muß in seiner Begründung erkennen lassen,
daß die Gefahr einer weiteren sittlichen Verwahrlosung von allen im Gesetze hierfün
bezeichneten Gesichtspunkten aus geprüft worden ist. Der Beschluß darüber, welche
Art der Unterbringung (in einer Familie, in einer Erziehungs= oder in einer
Besserungsanstalt) stattfinden soll, steht lediglich der Verwaltungsbehörde zu, Erk.
12. Dez. 1887 (E. K. VII. 19).