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Der weitere Ausbau des Deutschen Reiches. [Macht nach
außen und im Innern.] Was der Kaiser versprochen hatte,
hielt er in vollstem Maße: das Deutsche Reich wurde durch seine stets
zunehmende Macht, durch seinen innigen Bundmit Österreich-
Ungarn (seit 1879) und Italien (1883, öfter erneuert), durch
seine Vermittelungen auf dem Berliner Kongresse (1878),
auf dem die Balkanfrage geregelt wurde, und in der Berliner
Kongokonferenz (1884 1), endlich durch die Aufrechterhaltung
guter Beziehungen zu fast allen europäischen Staaten ein wahrer
Hort des Friedens. Die Grundlage der deutschen Macht bildeten
aber nach wie vor das Landheer und die Marine, die zu er-
weitern und zu verbessern das unablässige Bestreben des Kaisers war,
so daß Bismarcks stolzes Wort im Reichstage: „Wir Deutschen
fürchten Gott und sonst nichts in der Welt“ sein Recht behalten hat
und hoffentlich immer behalten wird. Auch in anderen Erdteilen
nahm das Ansehen des Reiches durch den Aufschwung des See-
handels und die Gründung von Kolonien (Südwestafrika,
Kamerun, Togo, Ostafrika und Kaiser Wilhelms-Land auf Neu-
Guinea) stetig zu. Im Innern festigte sich das Reich durch Ein-
führung gleichen Maßes, Gewichtes und Münzwesens und
einer einheitlichen Gerichtsverfassung (Reichsgericht in
Leipzig, Oberlandesgerichte, Land= und Amtsgerichte). Ein gemein-
sames Bürgerliches Gesetzbuch trat am 1. Januar 1900
in Kraft.
Sozialismus, Sozialdemokratie und Anarchismus. [Sozia-
lismus: Schulze-Delitzsch, Sozialdemokratie: Las-
salle.] Der Sozialismus (§ 28, 3) fand in Deutschland
erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts Aufnahme, wurde dann
aber weit gründlicher als in Frankreich wissenschaftlich behandelt.
Man kann dabei zwei entgegengesetzte Richtungen unterscheiden.
An der Spitze der einen stand der Jurist Hermann Schulze aus
Delitzsch in der Provinz Sachsen (daher Schulze-Delitzsch genannt).
Er wollte, daß sich die Arbeiter und kleinen Handwerker ohne
Staatsunterstützung von selber hülfen, und gründete daher
zahlreiche Gewerkschaften oder Genossenschaften, die den Wett-
bewerb mit den Großbetrieben aufnehmen konnten. Denn sie kauften
1) Danach erhielten alle Nationen volle Handelsfreiheit im Kongo= und
Nigergebiete.