Full text: Allgemeine Staatslehre

18 Erstes Buch. Einleitende Untersuchungen. 
Denn die die staatlichen Geschicke individualisierenden Momente 
liegen immer nur zum Teil, und zwar zum geringeren Teil, in 
den geographischen Verhältnissen, so daß vom geographischen 
Standpunkte aus niemals die allgemeinen und Sonderschicksale 
der Staaten eine umfassende, in die Tiefe dringende Erklärung 
finden können. Vor allem kann die zweite Naturbedingung des 
Staates, die Naturanlage seines Volkes, bei aller Einwirkung, die 
der Heimatsboden auf den Menschen zu gewinnen vermag, aus 
den äußeren Bedingungen des Staatsgebietes heraus niemals von 
Grund aus verstanden werden. Daher auch die große ge- 
schichtliche Erscheinung, daß ein und derselbe Boden den ver- 
schiedenartigsten Staaten und Völkern als phvsikalische Grund- 
lage gedient hat. Man denke bloß an die Staatenbildungen, die 
über die Fluren Italiens in buntem Wechsel gezogen sind. 
Anderseits aber ıst auch das Gebiet nicht nur wirkend, 
sondern auch empfangend. Der Mensch wird nicht nur von der 
Heimaterde mitbedingt, sondern er gestaltet sie sich auch um. 
Verhältnismäßig kurze Zeiträume genügen, um weite Strecken der 
Erde nicht unbeträchtlich zu verändern. Dem Ozean haben die 
Niederländer einen Teil ihres Territoriums abgerungen. Das 
Land der Vereinigten Staaten hat seit den ersten Ansiedlungen 
der Puritaner eine gewaltigere Revolution zu bestehen gehabt, 
als sie Naturkräfte in vielen Jahrtausenden hervorzubringen ver- 
mögen. Die moderne Technik hat entlegene Teile eines Staates 
einander genähert, hat räumliche und zeitliche Entfernungen in 
ungeahnter Weise überwunden. Sie hat Berge durchstochen, Seen 
und Meeresteile ausgetrocknet, Wasserbecken geschaffen, Flud- 
läufe verändert. \Wanderungen der Pflanzen und Tiere, durch 
den Menschen veranlaßt, haben das Aussehen und die wirtschaft- 
lichen Naturbedingungen!) ganzer Länder verändert. Dichte An- 
siedlungen, vor allem Städte, gestalten das Terrain von Grund 
aus um. Selbst das Klima ist durch Ausrottung von Wäldern 
vielfach ein anderes geworden. 
Das Gebiet ist zugleich das tote und das unsterbliche Element 
des Staates. Es überlebt — wenn es nicht ins Meer sinkt — 
jeden Staat, der sich auf ihm bildet, um sofort als Grundlage 
eines neuen zu dienen. Ein Volk kann zwar durch Eroberung, 
  
1) Vgl. v.Treitschke Politik I S.207f£.;, Hehn Kulturpflanzen 
und Haustiere, 8. Aufl. 1911 S. 1ff.
	        
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