Full text: Allgemeine Staatslehre

Viertes Kap. Bezieh. d. Staatslehre z. Gesamtheit d. Wissenschaften. 81 
die Lehre von den psychischen Zuständen und Akten, Voraus- 
setzung wie aller Geisteswissenschaft so auch der Staatslehre. 
Die Bedeutung psychologischer Betrachtung für die Erkenntnis 
des Staates zeigt sich namentlich nach zwei Richtungen hin. 
Einmal lehrt sie die wichtige Erkenntnis, daß der Staat, wenn 
auch seine Äußerungen sich notwendig in der physischen Welt 
abspielen, wesentlich eine innermenschliche Erscheinung ist. So- 
dann vermittelt sie uns das Verständnis der staatlichen, namentlich 
der staatsrechtlichen Grundtatsachen. So vor allem ist das Wesen 
eines Herrschaftsverhältnisses, die Natur des Imperiums, nur durch 
psychologische Analyse klar zu erfassen. 
Wie schon erwähnt, äußern sich die somatischen Unterschiede 
‚der menschlichen Rassen und Stämme auch in den Unterschieden 
der geistigen und sittlichen Anlagen. Diese im Zusammenhang 
mit jenen physischen Differenzen zu erkunden, ist Aufgabe der 
psychischenundsozialenAnthropologieundderEthno- 
graphie sowie mehrerer noch nicht völlig in ihrer Eigenart 
festgestellter Disziplinen, die sich den genannten Wissenschaften 
zu koordinieren trachten, wie der Völkerpsvchologie und 
Ethologie. Auch die Sprachwissenschaft ist berufen, an 
dieser Arbeit in hervorragendem Maße mitzuwirken. Die Ge- 
samtheit dieser Disziplinen trifft in der Wurzel mit dem anderen 
Zweig der sich mit dem Menschen als Genuswesen beschäftigenden 
Wissenschaften, den Sozialwissenschaften, zusammen. Von diesen 
unterscheiden sie sich aber dadurch, daß sie überwiegend die 
Wirkungen natürlicher Verhältnisse auf psychische Gestaltungen 
erforschen, während die Sozialwissenschaften ihre Objekte über- 
wiegend als Produkte gesellschaftlicher, also geistig-sittlicher, nicht 
der äußeren Natur angehöriger Kräfte auffassen. Eine reinliche 
Scheidung ist indes kaum überall durchzuführen, daher wir in 
anthropologischen Werken eingehende Erörterungen rechts-, staats-, 
religions- und wirtschaftsgeschichtlicher Art vorfinden. 
Von großem Werte sind anthropologische, ethnographische und 
sprachwissenschaftliche Untersuchungen wie für alle Kulturanfänge 
so auch namentlich für die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte 
der primitiven Staatenbildungen. Sie belehren uns über Sein und 
Wirken der ursprünglichen Gemeingefühle, auf denen sich später 
entwickelte Überzeugungen von dem Herrschen verpflichtender 
geistiger Mächte in allen geselligen Beziehungen aufbauen. Wenn 
auch heute auf diesem Gebiete, sobald der Kreis des rein Tat- 
G. Jellinek, Allg. Staatsiehre. 3. Aufl. 6
	        
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