92 Erstes Buch. Einleitende Untersuchungen.
haben. Solche Abhängigkeitsverhältnisse sind ‚„naturwüchsig“,
d.h. ganz losgelöst von dem Willen der jeweiligen Gesellschafts-
glieder, daher dauern sie auch im Staate, unabhängig von der
staatlichen Herrschaft, fort. Kein geselliger Verein, keine wissen-
schaftliche Schule, keine künstlerische Richtung usw., in denen
es nicht Leitende und Abhängige gäbe. Die formal-juristische
Möglichkeit, sich solcher Leitung zu entziehen, mindert nicht
die Tatsächlichkeit und Unentrinnbarkeit solcher Abhängigkeits-
verhältnisse. Wer nicht die geistige Kraft hat, sich zu eman-
zipieren, bleibt notwendig abhängig, solange er überhaupt die
betreffende Seite seiner Individualität pflegen und bewähren will.
Wäre es möglich, den Staat aus der Reihe der sozialen Gebilde
auszuscheiden, so würden die sozialen Abhängigkeitsverhältnisse
damit keineswegs aufgehoben werden.
Aber nicht nur für die Einsicht ın die staatlichen Grund-
verhältnisse, auch für die Erkenntnis aller typischen und indivi-
duellen staatlichen Erscheinungen ist die Gesellschaftslehre von
der höchsten Bedeutung. Im folgenden ist nun zunächst der
Begriff der Gesellschaft positiv zu entwickeln!) und sodann das
Verhältnis der Staatslehre zur Gesellschaftslehre in großen Zügen
zu verzeichnen.
1. Gesellschaft im weitesten Sinne bezeichnet die Gesamtheit
der in die Außenwelt tretenden psychologischen Zusammenhänge
unter den Menschen. Sie ist also ein Sammelbegriff, hervorgehend
aus der Zusammenfassung sämtlicher geselliger Beziehungen der
Menschen zu einer begrifflichen Einheit. In’ diesem Sinne ist sie
identisch mit der menschlichen Gemeinschaft, die eben aus einer
Fülle einzelner, dauernder oder vorübergehender Beziehungen
zwischen den Individuen besteht. Dieser Begriff ist aber so weit,
1) Kritische Erörterungen‘ der bisher aufgestellten Gesellschafts-
theorien würden an dieser Stelle zu weit führen. Das Unzulängliche des
neuesten eingehenden Versuches, den Gesellschaftsbegriff zu fixieren,
den Stammler, a.a.0. S.77ff., unternimmt, ist schon von Simmel,
Schmollers Jahrb. XX 1896 S. 575ff. (dazu J. Breuer Der Rechtsbegriff
1912 S.86£f.), und von Max Weber, Arch. f. Sozialwiss. 24. Bd. 1907
S.120ff., treffend dargetan. Überdies aber schließt die Stammlersche
Definition des sozialen Lebens als des äußerlich geregelten Zusammen-
lebens der Menschen den so bedeutsamen Saint-Simon-Steinschen Gesell-
schaftsbegriff, den Stammler gar nicht zu kennen scheint, aus der
Reihe der sozialen Erscheinungen aus, da das Leben der also gefaßten
Gesellschaft sich großenteils in der Form ungeregelten Kampfes vollzieht.