Viertes Kap. Bezieh. d. Staatslehre z. Gesamtheit d. Wissenschaften. 93
daß er ersprießlicher wissenschaftlicher Betrachtung nicht ohne
weiteres zugrunde gelegt werden kann. Eine Kenntnis der so
gestalteten Gesellschaft käme der vollendeten Kenntnis von dem
Wesen und den Schicksalen unserer Gattung gleich, wäre also
nichts Geringeres als die Lösung des Rätsels der Sphinx. Der
Grund, warum die sich als soziologisch bezeichnenden Ünter-
suchungen so häufig aller inneren Bestimmtheit entbehren und
sich so leicht in ungemessene Breite verlieren, liegt nicht zum
geringsten Teil darin, daß sie von diesem allumfassenden Gesell-
schaftsbegriff ausgehen, der der Wissenschaft alle Begrenzung
und damit allen gedeihlichen, methodischen, auf erreichbare Ziele
gerichteten Fortgang nimmt. Das Tatsachenmaterial, das die
moderne Soziologie ihren Sätzen zugrunde legen will, bildet in der
Regel nur einen den Unkundigen täuschenden Wall, hinter dem
sich aprioristische Konstruktionen, gestützt auf unvollkommene
Induktionen, zu verbergen pflegen.
Immerhin aber hat dieser weiteste Gesellschaftsbegriff für
die Staatslehre die große Bedeutung einer Korrektur falscher und
einseitiger Theorien. Wie alles Menschliche, ist auch der Staat
nur aus dem Ganzen des sich in der Gemeinschaft entfaltenden
Wesens des Menschen von Grund aus zu begreifen. Eine un-
übersehbare und darum nie vollständig zu erfassende Reihe
sozialer Tatsachen und Ursachen gestalten das konkrete Leben
des Einzelstaates und damit die Institution des Staates überhaupt
aus. Mit dieser Erkenntnis sind alle jene Lehren abgewiesen,
die aus dem Bereiche unzählbarer sozialer Ursachen eine oder
einige herausheben, um sie als die alleinigen treibenden Kräfte
der staatlichen Entwicklung hinzustellen.
Die unendliche Kompliziertheit des gesamten sozialen Ge-
schehens erklärt ferner zwei wichtige wissenschaftliche Phäno-
mene. Ein flüchtiger Blick in die Literatur lehrt, daß ein und
dieselbe Erscheinung von verschiedenen auf einander entgegen-
gesetzte und daher aufhebende Ursachen zurückgeführt wird. So ist
dem einen unsere moderne Kultur eine christliche, also ein Produkt
des christlich-religiösen Geistes, während der andere in der
Überwindung der religiösen durch die naturwissenschaftliche Welt-
anschauung, ein dritter in der Ausbildung der Technik, nament-
lich der des Verkehrswesens, die wahre Ursache unserer heutigen
Zivilisation sieht. Der eine erblickt in der Geschichte das Resultat
der Leistungen führender Geister, der andere nichts als das