Viertes Kap. Bezieh. d. Staatslehre z. Gesamtheit d. Wissenschaften. 99
Minderheiten in den verschiedenen Staaten, um zu erkennen, daß
das Gemeininteresse überall staatlich individualisiert zur Er-
scheinung gelangt. Die Gemeininteressen der gesamten Gesell-
schaft festzustellen und in staatlichen. Institutionen zum Ausdruck
zu bringen, ist, heute wenigstens, den Staaten nur innerhalb
enger Grenzen möglich.
Um die Wechselwirkung von Staat und Gesellschaft in be-
friedigender Weise wissenschaftlich zu ergründen, ist es notwen-
dig, das ungeheure Gebiet der Sozialwıssenschaften ın Einzel-
untersuchungen zu zerlegen. Nur durch Spezialisierung, die jede
wichtige soziale Funktion in ihrer Beziehung zum Staate isoliert
betrachtet, ist es möglich, zu ersprießlichen Resultaten zu ge-
langen. Diese Untersuchungen gehören aber, wie nochmals betont
werden soll, nicht der Staatslehre selbst, sondern anderen, ge-
sonderten Disziplinen der Gesellschaftswissenschaften an. In
welchen. Richtungen sich die hauptsächlichsten Untersuchungen
dieser Art zu bewegen haben, soll im folgenden in großen Zügen
angedeutet werden.
c) Die sozialwissenschaftlichen Spezialdisziplinen
ın ihrer Bedeutung für die Staatslehre.
1. Die Gesellschaft, sowohl in der Form der umfassenden
menschlichen Gemeinschaft als auch in ihrer Gliederung und
Spaltung in ein System von Gruppen, ist die Grundlage der
ethischen Betätigung eines Volkes. Diese faktische sozial-
ethische Lebensübung, die wohl zu unterscheiden ist von
den abstrakten, auf Erreichung eines sittlichen Ideales zielenden
ethischen Normen, ist von der höchsten Bedeutung für die Ge-
staltung aller Gemeinverhältnisse, also auch des Staates!). Die
herrschenden sittlichen Anschauungen und ihre Betätigung in
1) Daher nicht mit der „Staatssittenlehre‘“ zu verwechseln, die Mohl
als besondere staatswissenschaftliche Disziplin gefordert hat, die aber
nichts als ein Element einer richtig verstandenen Politik ist, nämlich
Lehre von den sittlichen Schranken, innerhalb deren die politischen
Zwecke erreicht werden sollen, sowie den ethischen Anforderungen an
ihre positive Gestaltung und die einzelnen, insofern sie zu ihr bei-
zutragen haben. Was Mohl, Enzyklopädie S., 504, als Ergebnisse einer
solchen Lehre bietet, ist übrigens nichts als eine Sammlung von Tri-
vialitäten. Über das Verhältnis der Staatslehre- zur Ethik vgl. aus der
neuesten Literatur J.Stern Die allg. Staatslehre und eine positi-
vistische Ethik, Grünhuts Zeitschrift XXXI 1903 S.87ff., auch Arch.
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