Full text: Allgemeine Staatslehre

Viertes Kap. Bezieh. d. Staatslehre z. Gesamtheit d. Wissenschaften. 103 
sein, in vielen Fällen aber wird sie das Resultat eines Wider- 
streites der Ansichten verschiedener Gesellschaftsgruppen sein, 
sei es, daß sie entweder auf einem Kompromiß beruht oder die 
Ansicht der stärksten Gruppe oder Gruppen darstellt. Sie hat 
mannigfallige Formen, in denen sie sich äußert: in den geselligen 
Zusammenkünften des täglichen Lebens, ın Vereinsbeschlüssen, 
in Versammlungen, in Petitionen, vor allem aber in der Presse, 
namentlich der Tagespresse. Ihrem gesellschaftlichen Charakter 
entspricht der Mangel einer Organisation, der sie zu sicherer Eın- 
heit zusammenfaßt. Ihre Wirkung auf den Staat ist zu allen 
Zeiten vorhanden, steigt aber mit der Zunahme der Demokrati- 
sierung der Gesellschaft und der Verbreitung der Teilnahme am 
politischen Leben durch die Massen. Sie ist nicht nur für die 
Politik, sondern auch für das Staatsrecht von Bedeutung, da sie 
in vielen Fällen die einzige Garantie der Befolgung öffentlich- 
rechtlicher Normen bildet!). Sie reicht über den Einzelstaat hin- 
aus, da heute eine internationale öffentliche Meinung existiert, 
die für die internationale Politik und das Völkerrecht von nicht 
minderer Bedeutung ist wie für die innerstaatliche Ordnung. Die 
Bildung, Feststellung, Bedeutung der öffentlichen Meinung im De- 
tal zu untersuchen, gehört zu den interessantesten Problemen 
der Sozialwissenschaft, zugleich aber auch zu den schwierigsten, 
da es sich hier um massenpsychologische Vorgänge handelt, deren 
Objekt mit Hilfe unserer wissenschaftlichen Methoden schwer zu 
beobachten ist. 
4..Gesonderte Untersuchung ist ferner dem Verhältnis der 
Familie zum Staate zu widmen. Hier begegnen wir einem reich 
entwickelten Zweige der soziologischen Spezialliteratur, dessen Re- 
sultate allerdings vielfach einen zweifelhaften Charakter an sich 
tragen, wenigstens sofern sie allgemeine Entwicklungsgesetze der 
  
relation between law and public opinion 1905. Zu dem Besten zählen die 
Ausführungen von James Bryce The American Commonwealth, new ed. 
1912 II part. IV p.25lff, und H.Münsterberg Die Amerikaner I 
1904 8. 220 ff. 
1) Die öffentliche Meinung ersetzt im absoluten Staat einigermaßen 
die fehlende Volksvertretung. Der Freiherr vom Stein konnte daher in der 
Denkschrift vom 27. April 1808 von einer Unterwerfung der Minister unter 
die öffentliche Meinung sprechen: Pertz Das Leben des Ministers Frei- 
herrn vom Stein I 2. Aufl. 1850 S.333. Haenel, Das zweite Ministerium 
des Freiherrn vom Stein 1908 S. 9; bemerkt darum sehr treffend: „Stein war 
der erste konstitutionelle Minister im Staate Preußen — ohne Konstitution.“
	        
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