Viertes Kap. Bezieh: d. Staatslehre z. Gesamtheit d. Wissenschaften. 109
mit dem Wirtschaftssubjekte ablehnen. Denn alle Erscheinungen
des .gesellschaftlichen Lebens sind massenpsychologischer Art.
Alle Massenpsychologie aber hat die Individualpsvchologie zu
ihrer Voraussetzung. Dieselben Kräfte, die in der Gesellschaft
walten, müssen an dem Individuum wahrnehmbar sein. Denn
wenn man selbst zugibt, daß soziale Ursachen mächtiger sind
als Wille und Einsicht des Individuums und dieses sogar wider
dessen Willen beeinflussen und gestalten, so muß dennoch die
Art dieses Einflusses psychologisch vermittelt und daher fest-
zustellen sein. Die Lehre von sozialen Mächten, die dem Indi-
viduum in psychologisch nicht nachweisbarer Art Richtung und
Inhalt seines Denkens geben, ıst nichts anderes als die An-
passung der alten, zuletzt in Hegelschem Gewande erschienenen
Ideenlehre an die neue Gesellschaftslehre. Dort war das Indi-
viduum Werkzeug höherer Ideen, ist sich daher des wahren
Wesens seines Denkens und Handelns nicht bewußt. Diese
Mächte sind in der in ihren ersten Anfängen bis Saınt-
Sımon zurückreichenden Marx-Engelsschen Geschichtsphilo-
sophie vom Logischen ins Unlogische übertragen; an Stelle der
geheimnisvollen Wirkung geistiger ıst jetzt die nıcht minder un-
verständliche Wirkung stofflicher Mächte getreten. Der Dogma-
tismus, auf unbeweisbaren Behauptungen aufgebaut, ist derselbe
geblieben; neu ist nur der der Mode entsprechende materiali-
stische Anstrich.
Psychologische Zergliederung des Individuums, die durchaus
nicht zusammenfällt mit dem, was ein Individuum ‚sich selbst
dünkt‘‘!), ergibt aber zweifellos, daß es von anderen als ökono-
mischen Interessen aufs tiefste bewegt werden kann, daher auch
die von ihm geschaffenen „ideologischen Formen“ nicht aus-
schließlich aus den ökonomischen Produktionsbedingungen erklärt
werden dürfen?).
1) K.Marx Zur Kritik der politischen Ökonomie 1859 S. VI, vgl.
Das Kapital 2. Aufl. I 1872 S.6£.
2) Späterhin hat Engels die von Marx anfangs schroffer als später
ausgesprochene Lehre immer mehr eingeschränkt, so daß schließlich von
dem ganzen historischen Materialismus nichts mehr übrig bleibt als die
unbestreitbare Tatsache, daß ökonomische Faktoren den Gang der Ge-
schichte mitbestimmen. Vgl. die Zitate und Ausführungen bei Ed. Bern-
stein Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozial-
demokratie 1899 S.6ff.; ferner Masaryk Marxismus 1899 S. 92ff.