112 Erstes Buch. Einleitende Untersuchungen.
suchen, ist die Aufgabe einer weiteren sozialwissenschaftlichen
Spezialdisziplin. Das hier zu bewältigende Material ist ein un-
geheures. Viele Einzeluntersuchungen, doch keine zusammen-
fassende Darstellung, namentlich für die neuere Zeit, hat die
Wissenschaft bisher aufzuweisen. Alle gesellschaftlichen Institu-
tionen stehen ursprünglich in innigstem Zusammenhang mit den
religiösen, und die Geschichte des modernen Staates ist zugleich
ein Prozeß fortlaufender Sonderung des staatlichen und religiösen
Gebietes, die aber trotzdem dauernd in Wechselwirkung mitein-
ander stehen. Die Auffassung ganzer Epochen vom Staate und
der Stellung seiner herrschenden und untergeordneten Teile ist
nur aus den religiösen Vorstellungen jener Zeiten gänzlich zu
begreifen, und auch in der Gegenwart kann der Einfluß der reli-
giösen Anschauungen auf die politischen für weite Kreise des
Volkes nicht gering angeschlagen werden!). Die Monarchie hat
bei vielen Völkern ihre stärkste Stütze ın den überlieferten reli-
giösen Überzeugungen, was die Macht und das Ansehen der Mon-
archen gegenüber den neueingeführten sie beschränkenden Insti-
tutionen erklärt, die aus abstrakten Verfassungssätzen allein nie-
mals erschlossen werden können. Nicht minder haben die repu-
blikanischen Bildungen in den religiösen Lehren reformierter
Staaten und Sekten ihre stärkste Stütze erhalten. Welchen Ein-
fluß antikes Heidentum und mittelalterliches Christentum, die
Reformation und die von ıhr ausgehenden besonderen Kontfes-
sionen auf Umfang und Inhalt der staatlichen Institutionen ge-
habt haben, gehört gegenwärtig mit zu den Hauptaufgaben histo-
risch-politischer Forschung. Anderseits ist aber aueh die Wirkung
des Staates auf die religiösen Verhältnisse Gegenstand wissen-
schaftlicher Untersuchung. So wenig auch heute Glaubenszwang
als Aufgabe des Staates anerkannt wird, so sehr hat er ihn
doch Jahrhunderte hindurch ausgeübt, hat die Gestaltung der
Kirchen und ihr inneres Leben mächtig beeinflußt. Auch heute
bestimmt durch Privilegierung und Zurücksetzung einzelner Kir-
chen oder durch völlige gesetzliche Freiheit der religiösen Ge-
nossenschaften der Staat das religiöse Leben in nicht geringem
Grade, wie eine Vergleichung verschiedener Staaten mit ver-
schiedenen kirchenpolitischen Prinzipien lehrt.
1) Sehr beachtenswert für das Verständnis der Probleme der Gegen-
wart E.Troeltsch Politische Ethik und Christentum 1904.