Full text: Allgemeine Staatslehre

Viertes Kap. Bezieh. d. Staatslehre z. Gesamtheit d. Wissenschaften. 117 
Unterschiede, die zu gesellschaftlicher Gruppenbildung führen, 
teils innerhalb des Staates, wenn ein Gebiet mit mehreren 
Nationen oder Teilen von Nationen besetzt ist, teils über den 
Einzelstaat, hinausgreifend, wenn eine Nation in mehreren Staaten 
lebt. Die Frage nach Wesen und Bildung der Nationen ist 
wiederum Gegenstand besonderer Untersuchung!). Die Bedeu- 
tung der Nation für den Staat allseitig festzustellen, ist eine 
wichtige Aufgabe der Gesellschaftslehre, die namentlich für 
wichtige Sätze der Politik die Grundlage zu liefern hat. Ist 
doch der Gegensatz von National- und Nationalitätenstaaten einer 
der politisch bedeutsamsten der Gegenwart geworden. 
Auszugehen bei dieser Untersuchung ist von der heute be- 
reits als gesichert zu bezeichnenden Erkenntnis, daß Nationen 
nicht natürliche, sondern geschichtlich-soziale Bildungen 
sind. Das Wesen einer Nation festzustellen, gehört, wie alles 
Fixieren von Erscheinungen, die in den ununterbrochenen Fluß 
des geschichtlichen Geschehens gestellt sind, zu den schwierig- 
  
1) Die gründlichste und umfassendste Erörterung des Wesens der 
Nation bei Fr.J. Neumann Volk und Nation 1888, wo auch die ganze 
frühere Literatur angegeben und bemutzt ist. Aus neuester Zeit vgl. 
Lindner Geschichtsphilosophie S.?iff.; Slavitschek Beiträge zur 
öffentlichrechtlichen Begriffskonstruktion 1910 S.15ff.; Fr.Meinecke 
Weltbürgertum und Nationalstaat 2. Aufl. 1911. Sehr feine und treffende 
Bemerkungen bei Ed. Meyer, Über die Anfänge des Staats und sein Ver- 
hältnıs zu den Geschlechtsverbänden und zum Volkstum, in den Sitzungs- 
berichten der Berliner Akademie 1907 S.533ff.; Geschichte des Alter- 
tums 13 3. Aufl. 1910 S. 77 ff. — Anders geartet als der soziale und politische 
Begriff der Nation oder Nationalität (ganz scharf wird sich der Unter- 
schied beider Bezeichnungen nie fixieren lassen) ist der in Nationalitäten- 
staaten bedeutsame rechtliche Begriff, wo er, mit Sprachgemeinschaft 
identisch, eine darauf gebaute Eigenschaft des Individuums, der Verbände, 
öffentlicher Anstalten und Behörden bezeichnet. Vgl. neuestens darüber 
v. Herrnritt Nationalität und Recht, dargestellt nach der öster- 
reichischen und ausländischen Gesetzgebung 1899 S. 16ff.; Lukas Terri- 
torialitäts- und Personalitätsbegriff im österreichischen Nationalitätenrecht 
(Jahrb. d. ö. R. II 1908 S.333f£); Wyszewianski Über die formal- 
rechtliche Behandlung der Nationalitäten in der modernen Gesetzgebung 
(Heidelb. Diss.) 1909; Bernatzik Über nationale Matriken (Inauguration 
des Rektors der Wiener Universität f. d. Studienjahr 1910/11) 1910 
S.ö97ff.; derselbe Die Ausgestaltung des Nationalgefühls im 19. Jahr- 
hundert („Rechtsstaat u. Kulturstaat“ Heft 6) 1912 S. 20ff.; Tezner Die 
Volksvertretung 1912 S.311ff. Vgl. auch die politische Studie von 
W.Schücking Das Nationalitätenproblem 1908.
	        
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