Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 137
Weise aber, die objektive, wie wir sie nennen wollen, gibt
nur ein äußerst kümmerliches und wissenschaftlich gänzlich un-
brauchbares Bild vom Staate. Alle gesellschaftiichen Vorgänge
können nur erschlossen werden, wenn man die sie verursachen-
den und begleitenden psychischen Akte kennt. Denn alles äußere
Geschehen in der Gesellschaft ist, wie alle von Menschen aus-
gehende Veränderung, durch den Willen bedingt, dessen Richtung
und Inhalt durch das ganze psychische Sein und Wirken des
Menschen gegeben ist. Mit dieser Erkenntnis wird der Staat
von der Welt der Objekte in die der Subjekte verlegt. Aus der
ungeheuren, unabsehbaren Zahl der menschlichen gesellschaft-
lichen Handlungen wird ein Teil ausgeschieden und auf Grund
bestimmter, eine Synthese fordernder Erscheinungen zu einer
Einheit in dem Bewußtsein sowohl des staatlich Handelnden als
auch des Forschers und Beurteilers zusammengefaßt. Alle Hand-
lungen können aber nur gedeutet werden vermittelst unserer
inneren Erfahrung. Die Mittel der Naturforschung: wägen,
messen, zählen, versagen ihnen gegenüber. Statistische ÜUnter-
suchung kann nur das äußere objektive Material liefern, das
erst durch psychologische Deutung seinen Wert erhält. Die so
gekennzeichnete Art wissenschaftlicher Erforschung des Staates
sei die subjektive genannt!).
Diese subjektive Betrachtungsweise des Staates ist der ob-
jektiven keineswegs entgegengesetzt, sondern tritt ergänzend und
erklärend zu ihr hinzu. Sie bestimmt die Realität des Staates
näher als eine nicht nur physische, sondern als eine überwiegend
psychische, auf innermenschlichen Beziehungen beruhende. Für
sie sind zwei verschiedene Arten möglich, die streng voneinander
gesondert werden müssen.
Die erste hat zum Gegenstand den Staat als soziale Er-
scheinung. Sie wendet sich den realen, subjektiven und objek-
tiven Vorgängen zu, aus denen das konkrete Leben der Staaten
besteht. Man pflegt diese Beirachtungsweise des Staates die
historisch-politische zu nennen. Sie liegt zugrunde der Staaten-
geschichte, der Lehre von Entstehung, Umbildung und dem Ver-
gehen der Staaten, der Erforschung der gesellschaftlichen Vor-
aussetzungen und Wirkungen des Staates sowie seiner einzelnen
Elemente und ihres inneren Zusammenhanges. Das Sein und
1) Gegen diesen Sprachgebrauch Menzel im Handb. d. Politik ]
1912 S. 36.