Full text: Allgemeine Staatslehre

150 Zweites Buch. Allgemeine Soziallchre des Staates. 
Einsichtigeren für die Staaten eine besondere Gattung von Orga- 
nismen postuliert: geistige, sittliche Kollektivorganismen, Orga- 
nismen höhcrer Ordnung. Die zweite Art von Lehren hat bis 
in die Gegenwart Anhänger von hohem Ansehen gefunden. Auch 
Männer von reichem, naturwissenschaftlichem Wissen haben sich 
ihnen angeschlossen, so in Deutschland W. Wundt!). Rechts- 
philosophen, Staatsrechtslehrer und Nationalökonomen zählen 
auch heute noch zu ihren Vertretern ?). 
Um diese Theorie eingehend würdigen zu können, ist zu 
beachten, daß der Staat nicht die einzige soziale Erscheinung ist, 
die für einen Organismus erklärt wird. Das Recht, die Wirt- 
schaft, die einzelnen Völker, ja die ganze Gesellschaft und sogar 
die Menschheit sollen Organismen darstellen. Neben die organische 
Staatstheorie tritt die organische Rechts-, die organische Wirt- 
schafts-, die organische Gesellschaftslehre®). 
Gemeinsam ist allen diesen organischen Auffassungen die 
Negation der entgegenstehenden Lehre, wonach die sozialen Ge- 
bilde Aggregate darstellen, die ausschließlich aus dem Wesen 
der sie bildenden letzten Elemente, den Individuen, zu erklären 
sind. Gemeinsam ist ihnen daher die Erfassung der menschlichen 
Gemeinschaft als einer ursprünglichen Einheit, zu der die ein- 
zelnen sich derart als Glieder verhalten, daß sie nur aus dem 
  
1) System der Philosophie, 3. Aufl. I] 1907 S. 192£f. 
2) Über die ältere Literatur vgl. van Krieken a.a.0. S. 101ff., 
über die Literatur des 19. Jahrhunderts eingehend F.W.Coker Orga- 
nismic theories of the state 1910. Von Neueren gehören hierher nament- 
lich Lasson a.a.0. S.289ff.; Gierke, Zeitschrift für die gesamte 
Staatswissenschafl XXX S.170££.,, in den Werken über Genossenschafts- 
recht sowie Deutsches Privatrecht I S.137ff., ferner in der Rektorats- 
rede: Das Wesen der menschlichen Verbände 1902; Preuß Gemeinde, 
Staat, Reich als Gebietskörperschaften 1889, Über Organpersönlichkeit, 
Schmollers Jahrbuch XXVII S. 557ff., Stellvertretung oder Organschaft, 
Jherings dogmatische Jahrbücher 1902 S. 429 ff., Das städtische Amtsrecht 
in Preußen 1902; Schäffle Bau und Leben ]JIl S.434, der aber den 
organologischen Erscheinungen nur den Wert von Analogien zuerkennt; 
E.Kaufmann Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 
19. Jahrhunderts 1908; Errera Notions modernes de !'Etat 1908 p. 13 ff. ; 
Trespioli Il concetto di stato (I Filangieri XXX 1905 p. 599); 
Menzel im Hdbch. d. Politik I S.38ff. (mit unwesentlichen Ein- 
schränkungen). 
®) Über die organische Gesellschaftsiehre vgl. Barth Philosophie 
der Geschichte I S. 90—166; Kistiakowski S.19E£f.
	        
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