Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 167
schließlich doch auch in dem Willen einer übernatürlichen Macht
gesucht werden mußte.
2. Den Staat als Rechtsverhältnis zu begreifen, scheint
auf den ersten Blick das Richtige zu sein. Wir sehen im Staate
Herrschende und Beherrschte, und in ihren gegenseitigen Ver-
hältnissen scheint sich das, was wir als Staat erkennen, zu er-
schöpfen!), Manche Gegner der juristischen Fiktionen glauben
in diesem den landläufigen Vorstellungen vom Staate zugrunde
liegenden Sachverhalt den juristisch richtigen Begriff des Staates
gefunden zu haben. Alle diese Lehren vermögen aber nicht die
Einheit des Staates, das Bleibende im Wechsel der Personen zu
erklären. Es gilt hier, was bereits oben näher ausgeführt wurde.
Faßt man den Staat als Herrschaftsverhältnis auf?), so bedeutet
die Behauptung der Einheit und Kontinuierlichkeit dieses Ver-
hältnisses bereits eine Abweichung von der empirischen Basis.
Nicht ein, sondern zahllose Herrschaftsverhältnisse weist der
Staat auf. So viel Beherrschte, so viel Herrschaftsverhältnisse.
Jeder neue Herrscher setzt ein neues Glied in die ‚Proportion ein.
Jeder Wandel in der Beherrschungsform müßte den Staat zer-
stören und einen neuen an die Stelle setzen. Derselbe Einwand
trifft auch die Versuche, alle rechtlichen Verhältnisse des
Staates in individuelle Beziehungen staatlicher Organe zu-
einander und zu den einzelnen aufzulösen®). Keine dieser
!) Diese Anschauung ist zuerst in der englischen Lehre vom Staate
hervorgetreten, die den Gedanken der Körperschaft nicht voll zu ent-
wickeln vermochte. Blackstone, Commentaries I,2 (S.146 der ersten
Ausgabe a. 1765), unterscheidet öffentliche und private Rechtsverhältnisse.
Das ganze Staatsrecht wird von ihm nur als Verhältnisse zwischen
Obrigkeit und Volk abgehandelt. Vom Staat selbst als berechtigtem und
verpflichtetem Subjekt, wie er bereits in der gleichzeitigen deutschen
Literatur hervortritt, ist bei ihm nirgends die Rede. Bis auf den heutigen
Tag ist in England die mittelalterliche Auffassung von einer Spaltung
des Staates in rex und regnum nicht überwunden, die beide einander als
berechtigte Subjekte entgegenstellte, da sie beide nicht zu einer Einheit
zusammenfassen konnte. Vgl. nunmehr auch Hatschek Englisches
Staatsrecht im Handbuch des öff. Rechts I 1905 S.81, 249.
2) Hierher gehört die oben S. 142 erwähnte Zustands- oder Ver-
hältnistheorie ihrer juristischen Seite nach. Vgl. auch System des subj.
öff. R. S. 34.
3) Vgl. Bierling Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe Il
Ss.215ff.; Juristische Prinzipienlehre I 1894 S.309ff., II 1898 S.345£f.
und Haenel Staatsr. I S.96£f., die den Staat als ein — von jedem