Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 169
diese Normen ausgehen. Da dies nun aber natürlich nicht der
Staat sein kann, so lenkt die Lehre vom Staate als Rechts-
verhältnis in die vorerwähnte ein: sie verlangt eine überstaatliche
Rechtsordnung, um folgerichtig durchgeführt werden zu können.
Auch praktisch versagt diese Theorie auf Schritt und Tritt,
da sie den nach außen handelnden Staat nicht zu erklären ver-
mag. Die völkerrechtlichen Beziehungen können nicht in Be-
ziehungen von Rechtsverhältnissen auigelöst werden. KRechts-
verhältnisse können nicht Rechte und Pflichten haben. Rechts-
verhältnisse können nicht Krieg erklären und können nicht Ver-
träge schließen. Ein Bundesstaatsrecht wird nach der Verhältnis-
lehre zum Widersinn. Der Bundesrat ist gemäß Art. 76 der deut-
schen Reichsverfassung zur Erledigung von Streitigkeiten des
öffentlichen Rechtes zwischen den Einzelstaaten auf deren An-
rufen zuständig. Wie kann ein Rechtsverhältnis mit einem 'an-
deren in Streit geraten und wie kann ein drittes Rechtsverhält-
nis über beide zu Gericht sitzen? Dieselbe Frage wiederholt
sich, wenn im Innern des Staates Körperschaften über ihre
gegenseitigen Rechte streiten.
3. Es bleibt somit nur die dritte Möglichkeit für eine be-
friedigende juristische Erklärung des Staates übrig: die Auf-
fassung des Staates als eines Rechtssubjektes!).
Der Begriff des Rechtssubjektes ist ein rein juristischer Be-
griff, bezeichnet daher keine dem Menschen anhaftende reale
1) Sie ist gegenwärtig die herrschende. Begründet durch das Natur-
recht, durch Grotius und namentlich durch die englische Staatslehre
des 17. Jahrhunderts, vor allem durch Hobbes (Elementa philosophica
de cive V 9, 10), sodann aber durch Locke (Two treatises on government
II, VII 95£f.), sowie in Deutschland durch Pufendorf zum Ausgangs-
punkt der rechtlichen Konstruktion des Staates erhoben, auch von
Leibniz gelegentlich vertreten (vgl. hierüber E. Ruck Die Leibniz’sche
Staatsidee 1909 S.41ff.), in Frankreich von Rousseau als Resultat
des contrat social (vgl.1.I ch. VI) behauptet, ist sie gegenüber speku-
lativen Unklarheiten zuerst von Albrecht, a.a.0O. S. 1491, Bähr, Der
Rechtsstaat 1864 S. 27ff., und später von Gerber in der zweiten Auflage
seiner Grundsätze des deutschen Staatsrechts S. 219ff. als unverrückbarer
Ausgangspunkt der juristischen Erkenntnis des Staates aufgestellt worden.
Ihr huldigen alle, die nicht, in dem alten Irrtum von der persona ficta
befangen, ein anderes Substrat für den juristischen Staatsbegriff ver-
meinen auffinden zu können. Sie ist heute in der publizistischen Literatur
aller Nationen, soweit diese sich mit den Grundbegriffen beschäftigt, von
hervorragenden Forschern vertreten. Sie herrscht in Frankeich, statt
aller seien hier nur genannt Esmein Elements p. 1ff.; Michoud La