Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates, 173
Die nähere Begründung dieser rechtlichen Auffassung des
Staates aber, die Lösung des Problems der Existenz eines Staats-
rechtes, ist an anderer Stelle zu erörtern.
Überblickt man schließlich die Gesamtheit der Staatstheerien,
so ergibt sich folgendes. Alle Versuche, den Staat zu erklären,
sind entweder individualistisch oder kollektivistisch
geartet. Jene sich realistisch oder empirisch dünkenden Lehren
sind nichts anderes als die Konsequenzen der Anschauung, die
das Individuum für die einzige, reale, unabhängig von unserer
subjektiven Synthese existierende Größe hält. Alle Versuche
aber, den Staat von rein individualistischen Anschauungen aus
zu erklären, sind mißlungen und müssen mißlingen, weil sie die
Einheit des Staates nicht zu erfassen vermögen. Sie scheitern
definitiv an der Erkenntnis, daß das Individuum selbst biologisch
als Kollektiveinheit sich darstellt. Die kollektivistische Einheit
hingegen, welche Einheit des Ganzen mit Selbständigkeit der
Glieder verbindet, liegt der organischen Staatslehre, der Theorie
der Verbandseinheit und der juristischen Lehre vom Staate
daher wie jedes andere Recht nunmehr vom Staate stammt und wie
jedes andere Recht der Disposition des Staates unterliegt, daß es ein
neben dem staatlichen Recht in der Luft hängendes Fürstenrecht nicht
mehr geben konnte, mag das den Dynastien zum Bewußtsein gekommen
sein oder nicht. Diese Lehre weiß ferner nichts von der zermalmenden
Kraft eines ganzen Jahrhunderts, das für die politische Möglichkeit und
Wirklichkeit, die, wie oben ausgeführt, stets die Grenzen juristischer
Spekulation bilden müssen, noch ganz andere Dinge vernichtet hat als
die legitimistischen Velleitäten Rehms. Eine wahrhaft historische Auf-
fassung der Rechtsverhältnisse der deutschen Dynastien müßte in jedem
einzelnen Staate die Agnatenrechte in ihrer Eigenart untersuchen und
sie, soweit sie auf die Staatsordnung sich beziehen, als staatliche Kom-
petenzen behandeln (vgl. System der subj. öff. R. S.187£.). Vgl. im
übrigen gegen Rehm die. vortreffliche Kritik von Anschütz zu G. Meyer
Staatsrecht S. 257£., 273 N.1, der durchaus zuzustimmen ist. In seiner
Abhandlung: Die überstaatliche Rechtsstellung der deutschen Dyvnastien
1907, hat Rehm seine alte Ansicht ausführlicher begründet; hiergegen
wieder G.Jellinek Der Kampf des alten mit dem neuen Recht 1907
S.38ff., 59ff. (Ausgew. Schriften und Reden I 1911 S.415ff.); darauf
endlich die Erwiderung Rehms in Hirths Annalen 1908 S.89ff. —
Der ganze Streit hat zum Teil nur mehr geschichtliches Interesse; denn
im Arch. f.öff. Recht XXV 1909 S.398 N.1 u. XXVI 1910 S.372 hat
Rehm die bekämpfte Ansicht ausdrücklich aufgegeben.