Full text: Allgemeine Staatslehre

176 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates. 
Staat als eine von den Menschen losgelöste, menschlicher Willkür 
entrückte Macht zu betrachten. Aber alle Tradition, so mächtig 
sie sein mag, so sehr alles soziale Geschehen von ihr durch- 
drungen ist, wirkt nicht als von außen kommende Macht, sondern 
kraft der inneren Neuschöpfung, die sie in jeder Generation er- 
fährt. Nicht‘ dunkle, unbewußt wirkende Kräfte gestalten in 
mystischer Weise die Kontinuität aller menschlichen Verhältnisse. 
Vielmehr muß das ganze Wissen und Können der Vergangenheit 
durch inneres Erleben eines jeden neuen Geschlechts, durch 
Lernen und Erfahrung von neuem erzeugt werden, und diese 
Prozesse fallen überwiegend in die Sphäre des Bewußtseins. 
Wir halten uns selten die unbestreitbare Tatsache vor Augen, 
daß die Existenz der Individuen fortdauernd nicht bloß die 
Wirkung unbewußt schaffender natürlicher Kräfte, sondern auch 
bewußter, vernünftiger Willensaktionen ist. Hunger und Ge- 
schlechtstrieb sind natürliche Mächte, aber ihre Befriedigung be- 
ruht auf Willensakten. Namentlich die Fortpflanzung und Heran- 
bildung einer neuen Generation kann nicht bloß auf die Wirkung 
blinder .natürlicher Triebe zurückgeführt werden, wie die Er- 
scheinungen der Askese, der künstlichen Beschränkungen der Ver- 
mehrung, der Tötung, Mißhandlung oder Vernachlässigung der 
Kinder bei vielen Naturvölkern, die sicherlich manchen Stamm 
haben aussterben lassen, beweisen. Nichts aber, was fortdauernd 
auf menschlichem Willen beruht, kann als bloße Naturgewalt, 
als rein natürliches Gebilde bezeichnet werden, es seı denn, daß 
man alle Unterschiede zwischen äußerem mechanischem und 
innerem psychologischem Geschehen gänzlich leugnet und sich 
damit auf metaphysischen Boden stellt. 
Näher bestimmt besteht der Staat in Willensverhält- 
nissen einer Mehrheit von Menschen. Menschen, die befehlen, 
und solche, die diesen Befehlen Gehorsam zollen, bilden das Sub- 
strat des Staates. Allerdings besitzt der Staat auch ein Gebiet. 
Geht man aber der Sache auf den Grund, so gelangt man zu der 
Erkenntnis, daß auch das Gebiet ein dem Menschen anklebendes 
Element ist. Seßhaftigkeit ist eine Eigenschaft, ein Zustand der im 
Staate befindlichen Menschen, und alle juristischen Wirkungen 
des Gebietes, wie später eingehend dargelegt werden wird, nehmen 
ihren Weg durch die menschliche Innerlichkeit. Von menschlichen 
Subjekten ganz losgelöst gibt es kein Gebiet, sondern nur Teile 
der Erdoberfläche.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.