Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 181
ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Ver-
bandseinheit seßhafter Menschen!).
Kraft der Synthese, die wir durch das Ineinsfassen der zahl-
losen Willensverhältnisse vornehmen, erlangen diese Verhältnisse
selbst. eine doppelte Qualifikation. Die natürlichen, in den Indi-
viduen sich abspielenden Willensvorgänge werden nämlich von
unserem Denken zugleich auf die Verbandseinheit selbst bezogen.
Unter dem Gesichtspunkte der Einheit werden die diese Einheit
zum Ausdruck bringenden, von ihr ausgehenden individuellen
Akte der Verbandseinheit zugerechnet. Die den herrschenden
Willen erzeugenden Personen werden, sofern sie diesen Willen.
bilden, Willenswerkzeuge, d. h. Organe des Ganzen?). Ist die
Synthese der menschlichen Vielheit zur Zweckeinheit logisch
notwendig, so ist nicht minder die Beziehung des Organwillens
auf die Verbandseinheit, die Zurechenbarkeit jenes zu dieser
logisch geboten.
So sind wir denn von den letzten wahrnehmbaren Tat-
beständen des staatlichen Lebens bis zur höchsten Form der
Synthese dieser Tatbestände aufgestiegen. Ob diese Synthese eine
der Welt unserer inneren Erfahrung transzendierende Bedeutung
1) Die folgenden Untersuchungen werden diesen Satz noch näher
begründen und gegen Einwände verteidigen. Hier sei nur erwähnt,
daß die Bemerkungen von Rehm, Staatslehre S. 114, gegen die Not-
wendigkeit ursprünglicher Herrschermacht auf einer unrichtigen, später
eingehend zurückzuweisenden Lehre von der Entstehung des Staates
beruhen. Ein Staat kann geschichtlich durch einen anderen ge-
bildet werden, rechtlich hat er seine Gewalt immer nur durch sich
selbst. Bulgariens Staatsgewalt war auch vor der Unabhängigkeits-
erklärung 1908 nicht abgeleitete türkische, sondern originär bulgarische
Gewalt; seine Gewalt war gar nicht mehr potentiell in der türkischen
Gewalt enthalten, wie es mit den eigenen, aber derivativen Rechten der
Gemeinde hinsichtlich der sie beherrschenden Staatsgewalt der Fall ist.
Die von Rehm angezogene Sprache der diplomatischen Urkunden ist
für die Entscheidung solcher Fundamentalfragen gänzlich belanglos;
was sıch die Redaktoren der Berliner Kongreßakte unter der Erhebung
Bulgariens zum Staate gedacht haben, ist für die Wissenschaft ohne
Interesse. Die Türkei aber konnte nicht ihre Provinz „staatsrechtlich
in einen Staat umwandeln“, weil auch nach türkischem Staatsrecht ein
Staat nicht den anderen schaffen kann.
2) Daß mit der Verwendung des Organbegriffes keineswegs in die
Bahn der organischen Staatslehre eingelenkt wird, vgl. auch G. Jellinek
System S.37 und oben S.158. Das ist auch verkannt von Zorn in der
Besprechung dieses Werkes, Deutsche Literaturzeitung 1904 S. 880.