Full text: Allgemeine Staatslehre

Siebentes Kapitel. Die Lehren von der Rechtfertigung des Staates. 185 
Staat anerkennen muß. Sie bewegen sich nicht auf dem 
Boden des Seienden, sondern des Sein-sollenden; sie sind nicht 
theoretischer, sondern praktischer Natur!). Sie bilden daher eine 
Grundlage politischer Betrachtung des Staates, da sie den klaren 
Zweck verfolgen, die vorhandene Staatsordnung zu stützen oder 
zu verändern. Sie bezeichnen aber eine jener Stellen, wo die 
Staatslehre zu ihrer Vollendung der Ergänzung durch politische 
Untersuchung bedarf, ansonst ihre Resultate den sicheren Boden 
verlieren. Das zeigen deutlich die großen geistigen Kämpfe der 
Gegenwart. Sozialismus und Anarchismus stellen die Berechti- 
gung des Staates überhaupt in Abrede und behaupten die Mög- 
lichkeit einer staatslosen Gesellschaft. Der Nachweis, daß Jer 
Staat eine notwendige und daher anzuerkennende Institution ist, 
lehrt sein \Wesen selbst tiefer erfassen, als wenn man die Mög- 
lichkeit nicht abwiese, daß er nur eine Episode, eine Entwick- 
lungskrankheit ın der Geschichte der Menschheit darstellt. 
Zur Beantwortung der hier aufgeworfenen Fragen kann man 
einen doppelten Standpunkt einnehmen. Man kann den Staat .be- 
trachten als eine in mannigfaltigen Formen sich auslebende, aber 
trotzdem stets gewisse typische Funktionen versehende geschicht- 
liche Erscheinung oder ihn als Glied einer Kette transzendenter 
Elemente auffassen, die als wahres, metaphysisches Sein der Er- 
scheinungswelt subsistieren. Unter dem Einflusse einer spekula- 
tiven Philosophie war bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhun- 
derts dieser zweite Standpunkt der herrschende. Mit dem Fall 
der Herrschaft dieser Philosophie wendet sich die positive Wissen- 
schaft ın der Meinung, daß es sich nur um ein spekulatives Pro- 
  
1) Das ist in der großen Literatur über diese Fragen häufig nicht 
klar erkannt worden, so daß das Problem der Rechtfertigung des Staates 
mit dem seiner historischen Entstehung vermischt wurde. Solche Ver- 
mischung z.B. deutlich und bewußt bei Stahl III? S.169ff. Noch 
Mohl, Enzyklopädie S.90ff.,, und Bluntschli, Die Lehre vom 
modernen Staat 1 S.298ff., fassen geschichtliche und spekulative Theorien 
von der Entstehung des Staates zu koordinierten Gliedern einer Einheit 
zusammen und trennen beide Kategorien nicht immer scharf genug. Die 
volle Bedeutung der Frage im Hinblick auf die Lehre vom Staatsvertrag 
hat zuerst erfaßt J.G.Fichte, Beiträge zur Berichtigung der Urteile 
über die französische Revolution. Sämtliche Werke I S.80ff. Den rich- 
ligen Standpunkt haben später auch v.Eötvös, Der Einfluß der herr- 
schenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat II 1854 S.58ft., 
sowie H.Schulze, Einleitung S. 139, eingenommen.
	        
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