Siebentes Kapitel. Die Lehren von der Rechtfertigung des Staates. 191
Ideen darauf hinaus, den uralten theokratischen Gedanken im
Interesse der preußischen Konscrvativen zu modernisieren.
Den wissenschaftlichen Wert aller Versuche, eine bestimmte
Staatsform auf den göttlichen Willen zu stützen, hat Rousscau
mit schneidender Ironie kritisiert, wenn er zwar zugibt, daß jede
Gewalt von Gott komme, aber hinzufügt, daß auch jede Krank-
heit vom Höchsten gesendet werde. Soll es deshalb verboten sein,
den Arzt zu Hilfe zu rufen?!)
In neuester Zeit ist denn die theologische Staatslehrc, die
heute namentlich in ihrer katholischen Abart ein umfassendes
praktisches Programm aufstellt, vorsichtiger geworden. Nicht
mehr die -Staatsform, sondern das Verhältnis des Staates zur Ge-
sellschaft beschäftigt sie in erster Linie. Sie sucht die Gesell-
schaft nach religiösen Prinzipien zu organisieren; wie ehedem
die ganze Politik, so wird nunmehr vornehmlich die moderne
kirchliche Sozialpolitik scheinbar aus obersten Prinzipien gefol-
gert, während in Wahrheit ebenso eine Anpassung dieser Prin-
zipien an die gegebenen sozialen Verhältnisse im kirchlichen
Interesse vorliegt, wie es früher mit den wechselnden politischen
Gestaltungen der Fall war?).
Die Exzesse der religiösen Theorie, die heute keiner ernst-
lichen Kritik mehr bedürfen, haben in neuester Zeit die Ver-
breitung antireligiöser Gesinnung in den sozialistisch gesinnten
Massen in hohem Maße gefördert. Die in der sozialistischen
Literatur so oft wiederkehrende Behauptung, daß die Religion
ausschließlich die soziale Funktion erfülle, die konkreten Macht-
und Ausbeutungsverhältnisse zu festigen, ist der unvermeidliche
Gegenschlag gegen die modernen Versuche, Religion und Tages-
politik miteinander zu verquicken. Auf der anderen Seite bietet
aber die theologische Staatslehre katholischer Fassung noch
immer der klerikalen Partei die theoretische Grundlage ihrer
staatsfeindlichen Bestrebungen, indem sie das selbständige Recht
des Staates heute wie vor Jahrhunderten negiert. Somit ver-
Y, „Toute puissance vient de Dieu, je l’avoue; mals toute maladie
en vient aussi: est-ce & dire qu’il sott defendu d’appeler le medecin ?“
Contr. soc. 1 3. Uneingedenk dieser Wahrheit haben nahezu hundert
Geistliche der verschiedensten evangelischen Bekenntnisse die Ab-
schaffung der Sklaverei 1863 als einen Eingriff in die Pläne der göttlichen
Vorsehung bezeichnet (Gomperz Griechische Denker III 1909 S. 260).
2) Vgl. z.B. Perin Christliche Politik 1876; Pesch Liberalismus,
Sozialismus und christliche Gesellschaftsordnung 2. Aufl. 1901.