192 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
fehlen diese Lehren das praktische Ziel einer Rechtfertigung
des Staates. Sie wirken nicht staatserhaltend, sondern staats-
zerstörend.
Wohl zu unterscheiden von diesen Äußerungen einer mit
transzendenten Mitteln kämpfenden Parteipolitik sind diejenigen
politischen und theologischen Lehren, welche sowohl die Er-
scheinung des Staates als die Gesamtheit seiner historischen Ent-
faltung auf Gott zurückführen. Es wird dadurch ein Doppeltes
ausgedrückt. Einmal die Überzeugung von der Vernünftigkeit der
staatlichen Ordnung, sodann der Gedanke, daß der Staat, wie
alles Seiende, aus dem Urgrunde der Dinge stamme. Eine wissen-
schaftlich befriedigende Einsicht ist aber damit nicht gewonnen,
da aus der Einheit des letzten Grundes eben alles abzuleiten und
damit das einzelne in seiner Eigenart nicht erklärt ist. Nicht
minder wird der vernunftgemäße Charakter des Staates durch
seine Projizierung auf den göttlichen Willen vorausgesetzt, aber
nicht bewiesen, wie ein Blick auf jene theologischen Lehren
zeigt, welche von der Überzeugung des ungöttlichen Charakters
des Staates durchdrungen sind.
Daher bedarf die theologische Theorie in dieser Fassung
stets noch eines anderen Rechifertigungsgrundes für den Staat.
Bei näherem Zusehen findet man, daß bei ihren Anfängen Gott
die causa remota des Staates ist, während dessen causa proxima
in einem anderen Prinzipe gesucht wird.
2. Die Machittheorie.
Das Wesen dieser Lehre besteht darin, daß sie den Staat
als Herrschaft des Starken über die Schwachen auffaßt und
dieses Herrschaftsverhältnis als durch die Natur begründet er-
klärt. Der Staat beruht demnach ihr zufolge auf einem Natur-
gesetze, das menschliche Willkür nicht aufzuheben vermag.
Darum soll der Staat von dem einzelnen anerkannt werden,
d.h. das Individuum muß sich ihm kraft der Einsicht unter-
werfen, daß er eine unabwendbare Naturgewalt sei, wie Sonnen-
wärme, Erdbeben, Ebbe und Flut u. dgl. Die Machttheorie ist
das materialistische Gegenstück der theologischen Lehre. Wie
dort Ergebung in den göttlichen Willen, so wird hier Ergebung
in die blind wirkenden Kräfte des sozialen Geschehens gefordert.
Die Machttheorie läßt sich von alters her vernehmen. In
vollster Schärfe und Deutlichkeit haben die jüngeren Sophisten