194 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
konkrete staatliche Ordnung als den Ausdruck der Machtverhält-
nisse der Gesellschaftsklassen auffaßt, dem alten sophistischen
Gedanken eine neue Form gegeben. Die tatsächlichen Macht-
verhältnisse, sagt Lassalle, die in einer jeden Gesellschaft be-
stehen, sind jene tätig wirkende Kraft, welche alle Gesetze und
rechtlichen Einwirkungen dieser Gesellschaft so bestimmt, daß
sie im wesentlichen gar nicht anders sein können, als sie eben
sind!). Und Fr. Engels erklärt auf Grund der Lehre von
Marx: „Die Zusammenfassung der zivilisierten Gesellschaft isi
der Staat, der in allen mustergültigen Perioden ausnahmslos der
Staat der herrschenden Klasse ist und in allen Fällen wesentlich
Maschine zur Niederhaltung der unterdrückten, ausgebeuteten
Klasse bleibt‘ 2).
Bezeichnend für die Machttheorie ist es, daß sie selten rein
auftritt. So wird sie bee Spinoza durch gewisse Elemente der
Vertragslehre, bei Haller durch patrimonial-privatrechtliche
Elemente gemäßigt. Die neueren Sozialisten endlich erklären,
daß auf dem Wege der Evolution die erst auf einem bestimmten
Punkte der Wirtschaftsgeschichte auftretende brutale Tatsache der
ım Kampfe der Gesellschaftsklassen sich bildenden staatlichen
Machtverhältnisse dereinst emporgehoben werde zu einer auf dem
Gedanken der Solidarität aller aufgebauten Gesellschaft. Denn
in der Menschenwelt werde einst kraft natürlicher Entwicklung
der Konkurrenzkampf enden und damit das, was wir heute als
Staat bezeichnen. Die Gesellschaft, welche die Produktion auf
Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu
organisiert, wird die ganze Staatsmaschine ins Museum der Alter-
fümer versetzen, neben das Spinnrad und die bronzene Axt?).
So wird von den Sozialisten wenigstens pro futuro die Natur-
notwendigkeit des Machtstiaates geleugnet.
Die Machttheorie hat scheinbar eine starke Stütze an den
geschichtlichen Taisachen, da im historischen Staatenbildungs-
prozesse es nur ausnahmsweise ohne Sieg einer Übermacht zu-
gegangen und der Krieg der Schöpfer der meisten Staaten ge-
wesen ist, sowie an der unleugbaren Wahrheit, daß jeder Staat
seinem Wesen nach eine Macht- oder Herrschaftsorganisation dar-
1) Über Verfassungswesen 6. Aufl. 1877 S. 7.
2) Der Ursprung der Familie S. 143, 10. Aufl. S. 185.
®) Engels Ursprung der Familie S.140, 10. Aufl. S. 182.