Siebentes Kapitel. Die T,ehren von der Rechtfertigung des Staates. 195
stellt. Allein auch der Zweck der Machttheorie liegt nicht in der
Erklärung, sondern in der Rechtfertigung des Gegebenen. Diese
Rechtfertigung gilt aber für die Zukunft, nicht für die Vergangen-
heit. Allerdings hat auch, wie an anderer Stelle näher aus-
geführt, das Faktische in menschlichen Dingen normative Be-
deutung. Allein ein zweiter Faktor wirkt der Anerkennung des
Faktischen als des Normativen mit elementarer Gewalt entgegen,
nämlich der Trieb, das Gegebene gemäß bestimmten Zielen um-
zugestalten. Daher ist die Machttheorie überzeugend nur für
diejenigen, die fatalistisch das Gegebene als unabwendbar hin-
nehmen, nicht überzeugend aber für die, welche das Experiment
wagen wollen, ob es nicht auch anders sein könne. Denn die
Kenntnis aller Naturgesetze beruht ja doch ausschließlich auf
Erfahrung, und es muß daher lediglich der Empirie gestattet
sein, die Erfahrung jederzeit um so mehr zu überprüfen, als
gründlichere Erfahrung schon so manches angebliche Naturgesetz
als irrig nachgewiesen hat.
Zudem wird von den Anhängern dieser Lehre durchaus ver-
kannt, daß herrschende Gewalt überall überwiegend psycho-
logischer, nicht physischer Natur ist, was ja schon daraus er-
hellt, daß in der Regel eine kleine Minderheit über eine Mehr-
heit herrscht. Dieselbe Macht, welche die britische Herrschaft in
Indien sichert, wäre nicht imstande, ein kleines germanisches
Volk, das vorübergehend unterjocht ist, im Zaume zu halten.
Daher sind staatliche und soziale Abhängigkeitsverhältnisse in
erster Linie bedingt durch die geistige und ethische Ausstattung
der Herrscher und der Beherrschten.
Die praktischen Konsequenzen der Machtlehre bestehen
nicht in der Begründung, sondern in der Zerstörung des Staates.
Wenn der Staat nichts als brutale, vernunftlose Macht ist, warum
sollte der von solcher Macht Bedrückte nicht den Versuch wagen,
ihn abzuschütteln, die Machthaber zu -beseitigen oder gar unsere
ganze vielgerühmte Zivilisation in die Luft zu sprengen, zumal
solche Handlungen, wie alles Geschehen, nicht außerhalb der
„naturgesetzlichen“ Notwendigkeit stehen? Da kein sittliches
Band Herrscher und Beherrschte miteinander verknüpft, fehlen
bei solcher Staatsauffassung alle ethischen Motive, welche die
Entstehung und Ausführung staatsvernichtender Lehren verhin-
dern könnten. Derartige anarchistische Konsequenzen sind ja
namentlich in der neuesten Zeit aus der Machtlehre gezogen
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