198 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
Familie. Theologisch gefärbtem Denken lag es daher nahe, zu
einer Zeit, da wissenschaftliche Forschungen über die Anfänge
der Zivilisation nicht existierten, den Staat schlechthin auf die
Familic derart zu basieren, daß die göttlichem und mensch-
lichem Recht gemäß den Eltern zu zollende Verehrung auch auf
die Lenker des Staates, als die Väter der erweiterten Familie,
zu übertragen sei. Während der Kämpfe Karls I. mit dem eng-
lischen Parlamente wurde diese Lehre von Sir Robert Filmer!)
eingehend begründet, indem er behauptete, Adam sei der König
des Menschengeschlechtes gewesen, die Monarchen seien die Nach-
folger Adams, und ıhnen stehe es demnach zu, die von jeder-
mann anzuerkennende väterliche Gewalt über ihre Untertanen
auszuüben. Unter Karl II. wurde diese Schrift gedruckt und von
den Anhängern der Dynastie als eine Art Evangelium aufgestellt,
Grund genug, daß A. Sıdney?) und Locke in energischer
Weise gegen diese törıchte, aber bei dem Geiste der Zeit mäch-
tige Lehre protestierten. Daß sie die Sidneyschen und Locke-
schen Untersuchungen über den Staat veranlaßt hat, ıst ıhr ein-
ziges Verdienst. Sie zu widerlegen, ist heute, selbst wenn man
solche Art der Argumentation ernst nehmen wollte, schon des-
halb, weil die väterliche Gewalt als Produkt langer geschicht-
licher Entwicklung erkannt wurde, überflüssig geworden. Im
Grunde ist sie ein Nebensprößling der religiösen Lehre, und
zwar ein sehr unentwickelter. Denn nicht den Staat, sondern
eine bestimmte Unterart des Staates, die absolute Monarchie,
sucht sie zu rechtfertigen; von anderen Staatsformen weiß sie
1) Patriarcha or the Natural Power of the Kings. Die selten ge-
wordene Schrift ist neuerdings abgedruckt in der Ausgabe von Locke
Two treatises on Civil Government, in Morleys Universal-Library 2. ed.,
London 1887, und übersetzt von Hilmar Wilmanns in John Locke
Zwei Abhandlungen usw. 1906 S. 1ff. Denselben Gedanken wie Filmer,
von dem übrigens Spuren viel früher zu finden sind, hatte der Holländer
Graswinckel, De iure majestatis 1642, in Bekämpfung der Ansichten
der Jesuiten Bellarmin und Suarez entwickelt, welch letzterer,
Tractatus de legibus de Deo legislatore 1619 1. III 1, den Menschen als
frei von jeder Autorität geboren werden läßt. Vgl. auch G. Jellinek
Adam in der Staatslehre 1893 S. 11ff. (Ausgew. Schriften u. Reden II
1911 S.30ff.); derselbe Hobbes und Rousseau (ebendaselbst S. 11).
2) Algernon Sidney Discourses concerning Government 1698 (fünf-
zehn Jahre nach des Verfassers Tod). Über seine Lehre zuletzt Liep-
mann Die Rechtsphilosophie des J. J. Rousseau 1898 S. 50 ft.