Full text: Allgemeine Staatslehre

Sicbentes Kapitel. Die Lehren von der Rechtfertigung des Staates. 215 
stellen willt).- Selbst wenn blinde Naturkräfte den Staat in 
seiner gegenwärtigen Gestaltung ausgewirkt haben, warum sollte 
das Überlieferte nicht unserem geläuterten Wesen gemäß aus- 
gestaltet werden, wie es ja mit anderen Institutionen, der Familie 
voran, geschehen ist? Darum hat man die Vertragstheorie mit 
nichten widerlegt, wenn man sie als unhistorisch nachweist — 
für viele das in mancherlei Form wiederkehrende Hauptargument 
gegen sie. So ist es trotz ihrer ausdrücklichen Ablehnung nichts 
anderes als die naturrechtliche Lehre ın neuer Form, die 
H. Spencer vorträgt, ‚wenn er, den Spuren A. Comtes 
folgend, zwei Gesellschaftszustände einander gegenüberstellt, den 
kriegerischen auf Gesetz und den industriellen auf Vertrag be- 
ruhend, und dem letzteren die Zukunft vindiziert?), damit an das 
Ende der Geschichte stellend, was die Naturlehre bereits als 
deren Anfang ansah. Auch die auf kollektivistischer Basis auf- 
gebaute freie Gesellschaft, wie sie der Sozialismus fordert und 
träunfit, ist im Grunde nichts anderes als der Vertragsstaat, dem 
der an unerwünschten Zwang mahnende Name des Staates aus 
agitatorischen Gründen aberkannt wird. Selbst wenn man 
jegliche atomistische Begründung des Staates energisch zurück- 
weist und ihn als unmittelbares Produkt natürlicher und geistiger 
Kräfte, als Organismus irgendwelcher Art, auffaßt, kann man 
nicht ohne weiteres den Gedanken ablehnen, daß das objektiv 
Notwendige als vernünftig auch gewollt werden könne, und daß 
in diesem vernünftigen, mit dem der anderen inhaltlich überein- 
und daher zusammenstimmenden Wollen für das Individuum die 
Rechtfertigung der Forderung liege, sich an das Ganze hin- 
zugeben. Bewußtes Wollen des objektiv Notwendigen ist ja der 
Grundgedanke, der tiefdurchdachte ethische Systeme durchzicht, 
wie im Altertum das der Stoa, ın der neueren Zeit die Lehre 
Spinozas. Man muß sich eben vor Augen halten, daß Sein 
und Anerkennung des Seienden zwei ganz verschiedene Dinge 
sind. Daher ist mit Schlagwörtern wie Atomismus, Mechanismus, 
Individualismus hier gar nichis widerlegt. 
Der Fehler der Vertragstheorie und aller Rechtstheorien liegt 
vielmehr ausschließlich in ihrer falschen Auffassung vom Wesen 
  
2) Unter diesem Gesichtspunkte hält Eötvös, Einfluß II 1854 S. 61, 
an der Vertragslehre fest, die er klar als reine Rechtfertigungstheorie 
erkannt hat. 
2) A.a.0. VIII ch. 17, 18.
	        
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