Sicebentes Kapitel. Die Lehren von der Rechtfertigung des Staates. 219
anderen zu einem Staate zu vereinigen, durch freien Willen den
Vernunftstaat zu realisieren. Das Rechtsgesetz, sagt er in
seinem letzten Werke, enthält zugkich ein sittliches Gebot an
jedermann, es zu erkennen und sodann zu befördern. Wer
an der Aufgabe, schließlich den Vernunftstaat zu realisieren, nicht
mitarbeiten will, der verletzt des anderen Recht; einen solchen
hätte man nicht zu dulden, sondern wie eine wilde Naturmacht
zu bändigen!). In anderer Weise aber als die Naturrechtslehre
hat, auf antiken Anschauungen fußend, Hegel die sittliche Not-
wendigkeit des Staates behauptet, indem er den Staat als höchste
dialektische Entwicklungsstufe des objektiven Geistes darstellt
und ihn als die Wirklichkeit der sittlichen Idee bezeichnet. Indem
der Staat so die gegenständlich gewordene Sittlichkeit ist, ist er
an sich vernünftig, und damit ist es höchste Pflicht des einzelnen,
Mitglied des Staates zu sein?). Der Gedanke der ethischen Not-
wendigkeit, den Staat anzuerkennen, ist sodann in der späteren
Literatur bis auf unsere Tage hinab mannigfach variiert worden?).
Er steht in naher Beziehung mit der folgenden Theorie, deren
Darstellung zunächst sich hier anzuschließen hat.
5: Die psychologische Theorie.
Auf dem Boden dieser Lehre steht die große Zahl derer,
die den Staat als eine histörische Notwendigkeit betrachten, ob-
wohl dies bei der großen Unklarheit, die so häufig in der polı-
fischen Literatur herrscht, vielen nicht zum Bewußtsein ge-
kommen ist. Da der Staat nicht außerhalb der Menschen
existiert, vielmehr sein Leben fortwährend durch menschliche
Aktionen vollzieht, so kann die behauptete geschichtliche Not-
wendigkeit, klar, also wissenschaftlich erkannt, nur als psycho-
logische bezeichnet werden. Alle daher, die den Staat als ein
Gebilde der Natur, als ein Produkt des Volksgeistes, als eine
geschichtliche Tatsache bezeichnen und dadurch rechtfertigen, ge-
hören hierher. Der Ahnherr aller dieser Lehren ist Aristoteles
1) Staatslehre oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunft-
reich (1813), WW. IV S. 434.
2) Philosophie des Rechts 8 258.
‚ 3) 2.B. Schmitthenner Grundlinien des allg. oder idealen Staats-
rechts 1845 'S.263; H.A. Zachariae D.Staats- u. Bundesr. I S.63;
Zöpfl Grundsätze I S.80; H.Schulze Einleitung S.153; Ahrens
Naturrecht I S.271; Trendelenburg Naturrecht S. 330.