Full text: Allgemeine Staatslehre

Siebentes Kapitel. Die Lehren von der Rechtfertigung des Staates. 221 
der Gesellschaft kann aus der geselligen Natur des Menschen 
deduziert werden, nicht aber die Zwangsorganisation oder Zwangs- 
gewalt. Aristoteles erklärt in seiner Lehre von der Ent- 
stehung des Staates nur die Gesellschaft; fehlt doch seiner Staats- 
definition das wesentliche Merkmal der Staatsgewalt!). Daß 
jeder Verband, am meisten aber der höchste, Autarkie besitzende, 
mit einer die Verbandszwecke versorgenden, den Widerstand der 
Glieder brechenden Gewalt ausgerüstet sein müsse, begründet er 
nirgends, setzt cs vielmehr als selbstverständlich und daher 
keines Beweises bedürftig voraus. Ebensowenig befriedigt die'auf 
Grund der landläufigen Auffassung der aristotelischen An- 
sichten?) in der Gegenwart häufig vorgetragene Lehre von dem 
natürlichen, organischen Werden des Staates. Denn staatlicher 
Zwang wird jederzeit von bewußt Handelnden gegen bewußt 
Handelnde geübt; nicht um unbewußt-organische, sondern um 
bewußt-willkürliche Vorgänge handelt es sich beim Dasein und 
Wirken der staatlichen Zwangsgewalt. Diese Zwangsgewalt gar 
auf einen organischen Staatstrieb zurückzuführen, ist ein durchaus 
verkehrter Gedanke; einen Trieb, sich beherrschen zu lassen, 
dürfte wohl kein Psychologe anerkennen; Aristoteles be- 
hauptet das nicht einmal vom Sklaven. In Wahrheit meinen 
auch die Anhänger des ‚Staatstriebes“ nichts anderes als den 
Gesellschaftstrieb. 
Aber auch der Hinweis auf die ununterbrochene historische 
Existenz des Staates genügt für die Lösung der vorliegenden 
Frage nicht, denn gar manche seit undenkbaren Zeiten nachweis- 
bare Institution hat später ihr Wesen geändert oder schließlich 
selbst ihr Dasein verloren. Auf Grund der historischen Er- 
fahrungen, die Augustinus zu Gebote standen, konnte er den 
Satz aufstellen, daß die Sklaverei so lange dauern werde als der 
irdische Staat. Die anarchistische und sozialistische Geschichts- 
philosophie leugnen nicht, daß Vergangenheit und Gegenwart den 
  
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NEDas TNS abrapreias ws Eos einelv, yırousvn Ev 00V Tod ChV Evexev, oloa 
ös tod ev Önv. Polit. I, 2, 1252b, 27 ff. 
2) Aristoteles spricht I 2, 1253a, 30, von der „soun“, die in allen 
auf Bildung des Staates gerichtet ist. Das ist aber nichts anderes als 
der Geselligkeitstrieb, der durch die höchste Form der Gesellschaft 
befriedigt wird, die Aristoteles nur durch ihren Zweck, nicht aber durch 
ihre Struktur von anderen Gesellschaftsformen scheidet.
	        
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