Full text: Allgemeine Staatslehre

Siebentes Kapitel. Die Lehren von der Rechtfertigung des Staates. 229 
physische Konstruktion mag das Gewesene als vernünftig oder 
als naturnotwendig erklären, das Individuum kann nur vom 
Standpunkt seines sittlichen Bewußtseins aus urteilen, dem das 
millionenfache Weh und Elend, das die sozialen Verhältnisse der 
Vergangenheit, zweifellos auch unter gewaitiger Mithilfe mensch- 
licher Schuld, gezeitigt haben, niemals als unabänderliches Schick- 
sal begreiflich ist. Bezeichnend ist es, daß die Marx-Engels- 
sche Geschichtsphilosophie, die den Staat für die Zukunft ver- 
wirft, ihn nach rückwärts zu rechtfertigen unternimmt .und damit 
einerseits jedes \Werturteil über die Vergangenheit abschneidet 
und anderseits dennoch das nach rückwärts Anzuerkennende als 
das zu Überwindende erklärt. Die wahre Konsequenz einer sol- 
chen Lehre wäre aber die Verwerfung jeder praktischen Anfor- 
derung an den Willen auch für die Zukunft. Denn wenn die Ge- 
schichte von einer von allen individuellen Entschlüssen unab- 
hängigen, jenseits von Gut und Böse stehenden ehernen Not- 
wendigkeit durchwaltet ist, dann Setzt sich das Notwendige von 
selbst durch und bedarf keiner Anerkennung von seiten des 
Individuums. 
Aber mit solcher Anschauung stehen wir auf dem Boden 
alter, wohlbekannter metaphysischer Theorien, die in der Hegel- 
schen Dialektik ihren Gipfelpunkt erreicht haben. Wer das In- 
dividuum aus dem geschichtlichen Prozesse ausschaltet, der hat 
es leicht, die hier behandelte Frage gänzlich zu verwerfen, da 
die Substanz, der Weltgeist, die Materie, oder wie sonst das 
große x heißen mag, über den Köpfen und durch die Köpfe der 
Individuen ihr Werk verrichten. Wenn aber trotzdem auch alle 
derartigen Systeme eine mehr oder minder klare Rechtfertigungs- 
lehre der gesellschaftlichen Institutionen enthalten, so ist das der 
sicherste Beweis dafür, daß unsere Frage nicht zu umgehen und 
durch keine Klügeleı aus der Welt zu schaffen ist. 
Wenn der Staat für Gegenwart und Zukunft gerechtfertigt 
ist, so liegt darin zugleich die Aufforderung an ihn, sein Dasein 
mit einem materiell gerechtfertigten Inhalt zu erfüllen. Der 
Staat in seiner konkreten Ausgestaltung, in der Fülle seines ge- 
schichtlichen Daseins wird aber nur gerechtfertigt durch die 
Zwecke, die er vollbringt. So leitet die Lehre von der Be- 
gründung des Staates zu ihrer notwendigen Ergänzung hinüber: 
der Lehre von den Staatszwecken.
	        
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