Achtes Kapitel.
Die Lehren vom Zweck des Staates.
I. Das Problem.
Die Lehren vom Staatszwecke haben ähnliches Schicksal ge-
habt wie die von der Rechtfertigung des Staates, mit denen sie
ınnig verknüpft sind. Lange Zeit standen sie im Mittelpunkt der
staatswissenschaftlichen Diskussion, namentlich in der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts, wo sogar die Behauptung aufgestellt
wurde, daß die ganze Erkenntnis des Staates von der richtigen
Erkenntnis seiner Zwecke abhänge!). In der neuesten Zeit aber
hat man die Frage nach dem Zwecke des Staates entweder nicht
mehr selbständig untersucht oder gänzlich ignoriert oder endlich
die Frage selbst als eine müßige und daher gar nicht zu er-
hebende erklärt?). Zwar hat noch Holtzendorff seine Politik
ganz auf die Lehre vom Staatszweck aufgebaut, allein sein Vor-
gang ist in der neuesten Literatur vereinzelt geblieben.
Um sich über Wesen und Bedeutung der .hier zu erörternden
Probleme Klarheit zu verschaffen, ist es notwendig, genau fest-
zustellen, um was es sich bei ihnen handelt, zumal die Ver-
wirrung in den Ansichten hierüber grenzenlos ist. Unter dem
Zweck des Staates können nämlich drei gänzlich verschiedene
Probleme zusammengefaßt werden. Es kann gefragt werden, wel-
cher Zweck der Institution des Staates in der Ökonomie des
historischen Geschehens im Hinblick auf die letzte Bestimmung
u
1) Vgl. über diese Theorien Murhard Der Zweck des Staates
1832 S.3 ff.
2) So verneint neuerdings Menzel, Hdbch.d. Pol.1S.43 N.32, in
Anschluß an Bernatzik (u. S. 235 N.1) die Erheblichkeit der Frage für
eine rein juristische Betrachtung des Staates. Man fasse aber den Fall
ins Auge, daß ein Rechtssatz auf den Staatszweck als auf eine gegebene
Größe Bezug nimmt, um die Bedenklichkeit jener Auffassung einzusehen.
Der rechtliche Umfang der Polizeigewalt z.B. kann gebunden sein an
die Schranken, die die Staatslehre den Zwecken des Staates gezogen hat.