Achtes Kapitel. Die Lehren vom Zweck des Staates. 231
der Menschheit zukomme, ferner welchen Zweck ein individuell
bestimmter Staat im geschichtlichen Zusammenhang gehabt habe
oder habe, und endlich, welchen Zweck die Institution des
Staates in einem gegebenen Zeitpunkt für die ihr Eingegliederten
und damit für die Gesamtheit besitze!). Von diesen drei mög-
lichen Fragen ist die erste und zweite mit den Mitteln empiri-
scher Forschung nicht zu beantworten?). Mit der Fragestellung
selbst hat man sich in das Gebiet metaphysischer Spekulation,
meistens aber in das Reich willkürlicher und haltloser Einfälle
begeben; daher ist für den, der den Boden der empirischen For-
schung nicht verlassen will, die ganze Fragestellung eine müßige.
Ich will diese beiden Fragen als die nach dem objektiven
Zweck des Staates bezeichnen, und zwar die erste als die nach
dem universalen, die zweite als die nach dem partiku-
laren objektiven Staatszweck.
Im Zusammenhang der philosophischen Systeme ist seit
Plato die Frage nach dem universalen objektiven Staatszweck
häufig aufgeworfen und beantwortet worden. Sie steht im Mittel-
punkte der politischen Spekulation des theologischen Denkens,
dem von Augustinus die Wege gewiesen wurden. Die christ-
liche Theologie mußte schon kraft des eschatologischen Problems
die Frage nach dem letzten Ziel des staatlichen Lebens scharf
ins Auge fassen. Von bleibender Bedeutung sind diese theo-
logischen Lehren dadurch geworden, daß sie zuerst die geschicht-
lichen Erscheinungen nicht als eine jeder Ordnung entbehrende
Abfolge menschlicher Erlebnisse, sondern als eine einem be-
stimmten Ziele zusteuernde Entfaltung auffassen. Dadurch haben
sıe mit den Anstoß zu der modernen Idee der Entwicklung ge-
geben, welche zuerst auf die Geschichte angewendet, sodann in
neuester Zeit auf die gesamte Natur übertragen wurde?).
1) Diese Unterscheidung möglicher Gesichtspunkte für das Zweck-
problem ist bisher nirgends unternommen worden.
2) Andr. Ans. Menzel, a.a.0O. S.44, wohl unter Verkennung des
zwischeu Geeignetheit und innerer Zweckmäßigkeit bestehenden Uhter-
schiedes.
®) Der moderne Entwicklungsbegriff im Sinne des Fortschrittes oder
der \Vertsteigerung geht auf Leibniz zurück, dessen Lehre sich unter
dem mitbestimmenden Einfluß religiöser Anschauungen gebildet hat.
In voller Schärfe hat er als der erste den Satz ausgesprochen: „In
cumulum etiam pulchritudinis perfectionisque universalis operum divi-
norum, progressus quidem perpetuus liberrimusque totius universi est