Achtes Kapitel. Die Lehren vom Zweck des Staates. 233
durch Ungewußtes und Unwißbares ein nicht zu unterdrückendes
Bedürfnis unserer geistigen Organisation ist, so entbehren doch
alle Antworten auf dieletzten Fragen der allgemein überzeugenden
Kraft und sind überdies unvermögend, die realen Probleme der
Gegenwart befriedigend zu lösen. Aus dem Allgemeinsten, das sie
aufstellen, kann niemals das Konkrete mit irgendwelcher Sicher-
heit gefolgert werden.
Ganz willkürlich ist die Theorie vom objektiven partikularen
Zwecke des Staates, der zufolge jeder Staat seinen besonderen,
nur ihm zukommenden, seine geschichtliche Stellung und Be-
urteilung bedingenden Zweck gehabt habe und haben werdet).
Bei der Aufstellung dieser Zwecke wird gewöhnlich irgendeine
der mannigfaltigen, historisch wechselnden Tätigkeiten des be-
treffenden Staates herausgehoben und als sein nur ihm wesent-
lich eignender Zweck erklärt. So wenn z. B. Eroberung für
Rom, die politische Freiheit für England, die Wiederherstellung der
Glaubenseinheit für das Spanien der Habsburger, die Verkörperung
eines Reiches der Freiheit für Deutschland (Fichte), die Koloni-
sierung und Zivilisierung Nordasiens als der spezifische Zweck für
das russische Reich bezeichnet wird. Im populären Bewußtsein
aber spielt diese Theorie eine große Rolle, namentlich wenn es
sich um internationale Verhältnisse handelt. Wie häufig ist da
nicht auch in der Gegenwart von den geschichtlichen Aufgaben,
von der historischen Mission des einen oder des anderen Staates
die Rede, während es sich in Wahrheit nicht um objektive, von
einer höheren, die Geschichte durchwaltenden Macht gesetzte
Zwecke, sondern stets um bestimmte — wirkliche oder vermeint-
liche — durch seine ganze geschichtliche Lage geschaffene Inter-
essen des Einzelstaates handelt.
1) Die erste Spur dieser Lehre bei Montesquieu X15. Als Tvpus
einer solchen Theorie mag der Satz Vollgraffs erwähnt werden, daß
der griechische Staat ein menschlich-gesellschaftlicher Verein zur Ver-
herrlichung des Menschen in der Gattung gewesen sei, vgl. Murhard
8.23. Am großartigsten hat Hegel die Lehre vom universalen objektiven
Zweck mit der vom partikularen verbunden, indem er die Staaten als
bewußtlose Werkzeuge des Weltgeistes auffaßt, deren immanenter Zweck
es ist, den Weltgeist auf eine höhere Entwicklungsstufe zu heben. Es
gibt welthistorische Völker, die in einer bestimmten Epoche Träger der
jeweiligen höchsten Entwicklungsstufe des Weltgeistes sind, um sodann,
wenn ihre Epoche vorbei, nicht mehr in der Weltgeschichte zu zählen.
Vgl. Philosophie des Rechts S. 424 ff.