Full text: Allgemeine Staatslehre

236 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates. 
ausgerüstet, die sich von jeder irdischen Macht unabhängig fühlte, 
deren Souveränctät der des Staates weit überlegen war. Sie gab 
Gesetze, richtete und strafte; sie hatte eine viel umfangreichere 
Verwaltung als der gleichzeitige, mit ihr verglichen rudimentäre 
Staat!). Wenn sie trotzdem nicht Staat war, sondern Kirche 
blieb, so konnte diese Einsicht nur aus dem Unterschied ihrer 
Zwecke von denen des Staates gewonnen werden. Wäre dem 
nicht so gewesen, hätte im allgemeinen Bewußtsein kein ÜUnter- 
schied zwischen den Zwecken des Staates und der Kirche be- 
standen, so hätte die ganze Kirche schließlich den Staat ab- 
sorbiert. Aber auch heute noch ist eine sichere Abgrenzung 
zwischen Staat und Kirche ohne Erkenntnis der Zwecke beider 
nicht möglich ?). 
Die praktische Bedeutung der Erkenntnis des Staatszweckes 
besteht aber darin, daß erst durch sie die psychologisch und 
ethisch notwendige Rechtfertigung des Staates vollendet wird. Die 
Lehre von dem Rechtfertigungsgrunde des Staates konnte nur 
die Institution des Staates schlechthin rechtfertigen, nicht aber 
den Staat ın seiner individuellen’ Ausgestaltung. Hier triti nun 
die Lehre vom Staatszwecke ein. Dem naiven Bewußtsein wie 
der wissenschaftlichen Überlegung drängt sich notwendig die 
Frage auf, warum die staatlichen Institutionen, die doch nicht 
blinde Naturgewalten sind, in ihren durch menschlichen Willen 
wandelbaren und tatsächlich steten Veränderungen ausgesetzten 
Formen existieren, wozu die Opfer gefordert werden, die der 
einzelne und die Gesamtheit unablässig dem Staate darzubringen 
haben. Mit opportunistischer Leugnung allgemeiner Prinzipien 
für das staatliche Handeln und einem resignierten „es geht nun 
einmal nicht anders‘ oder mit der praktisch auf gleicher Linie 
stehenden Behauptung von dem Staate als Selbstzwecke lassen 
sich Wehr-, Steuer- und Gerichtspflicht, und wie all die hundert 
Pflichten heißen, die der Staat auferlegt, nicht rechtfertigen. 
Daher berühren sich an diesem Punkte Staatslehre und praktische 
  
1) Anhänger und Gegner der Kurie behaupten im Mittelalter den 
staatlichen Charakter der Kirche, die als respublica, regnum, politia 
bezeichnet wird. Vgl. Gierke Genossenschaftsrecht III S.540 N.51; 
ferner v.Eicken Geschichte u. System d. mittelalterl. Weltanschauung 
1887 S.388ff. Vgl. auch Friedberg Lehrbuch des katholischen und 
evangelischen Kirchenrechts, 6. Aufl. 1909 S. 52 ff. 
2) Vgl. auch Rehm Staatslehre S. 32 ff.
	        
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