Achtes Kapitel. Die Lehren vom Zweck des Staates. 243
Sowie man aber versucht, diesen Gedanken in die Praxis
umzusetzen, ergeben sich sofort die größten Bedenken. Der
Begriff des Wohles und der ihm nahe verwandte des Nutzens
sind nämlich so vieldeutig, so unbestimmt, so stark von sub-
jektiver Anschauung abhängig, daß aus ihnen alles mögliche
gefolgert werden kann und gefolgert worden ist. Unter Berufung
auf die gemeine Wohlfahrt sind zu allen Zeiten die rücksichts-
losesten Angriffe auf die höchsten und wichtigsten individuellen
Güter vorgenommen worden. Daher wurde die Wohlfahrtslehre
von allen angenommen, die das Tätigkeitsgebiet des Staates ins
Schrankenlose zu erweitern trachteten. Sie ist die klassische
Theorie des Staatsabsolutismus und des Polizeistaates. Darum
ist sie am gründlichsten im 18. Jahrhundert, zur Zeit des auf-
geklärten Absolutismus, um ihn zu stützen, ausgebildet worden.
Namentlich die Philosophie Christian Wolffs hat sıe gefördert,
indem Wolff die in der Vervollkommnung bestehende Glück-
seligkeit als das höchste Ziel des Menschen und daher auch
aller auf die Nebenmenschen gerichteten Handlungen erblickt.
Wolff selbst erklärt vitae sufficientia, tranquillitas et securitas,
von denen die beiden letzten Bedingungen zur Erreichung der
felicitas sind, als Zweck des Staates!). Soweit diese Zwecke
es erfordern, muß der einzelne sich die Beschränkung seiner
Freiheit gefallen lassen. Daß diese Beschränkung in vielen
Fällen einer Vernichtung gleichkomme, haben die näheren Aus-
führungen in seiner Politik gezeigt. Unter seinem Einflusse be-
gann seit Justi2) sıch die Theorie des Polizeistaates auszubilden,
die jeden Eingriff in die ındıviduelle Rechtssphäre unter Berufung
auf die allgemeine Wohlfahrt für gerechtfertigt erklärte?), wovon
ja das Allgemeine Landrecht ein deutliches legislatorisches Zeugnis
abgelegt hat. Aber nicht nur der monarchische, auch der demo-
kratische Absolutismus hat die eudämonistische Theorie gepflegt,
und die Jakobiner haben das Gemeinwohl offiziell für den
obersten Staatszweck erklärt, was praktisch die Sanktionierung
1) Jus naturae VIII 88 4ff.
?) Grundsätze der Polizeiwissenschaft 1756.
3) Zahlreiche Schriften angeführt bei Murhard S.178ff. Vgl. die
vorzügliche Schilderung des Polizeistaates bei O. Mayer Deutsches Ver-
waltungsrecht I S. 38ff. und bei Fleiner Institutionen des deutschen
Verwaltungsrechts 2. Aufl. 1912 S. 31 ff.
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