Achtes Kapitel. Die Lehren vom Zweck des Staates. 255
wichtigste Grundlage der französischen Nation, die französische
Sprache, ist, trotzdem ihre soziale Herrschaft vom Staate be-
günstigt wurde, selbstverständlich nicht staatliches Produkt. Der
Einfluß des Staates auf die Ausbildung der französischen Nation
war überdies zum großen Teile unbeabsichtigte Nebenwirkung
der zentralisierenden Herrschaft der französischen Könige. Die
zweckbewußte Einwirkung des Staates auf Bildung und Rück-
bildung der Nationen ist sehr gering, was zur Genüge die poli-
tischen Verhältnisse der von mehreren Nationen bewohnten
Staaten zeigen. Nationale Minderheiten können durch administra-
tive Maßregeln allein von der Majorität nicht aufgesogen werden.
Nicht einmal unentwickelte Nationalitäten sind heute der herr-
schenden Nation gänzlich zu assimilieren, wie die Iren, dıe Slo-
wenen, die Wenden ın der Lausitz, die Letten usw. beweisen.
Es sind also nur die planmäßigen solidarischen menschlichen
Lebensäußerungen, die dem Staate eigentümlich sınd. Bewahren,
Ordnen, Unterstützen sind die drei großen Kategorien, auf die
sie sich zurückführen lassen. Je größer das solidarische Interesse
ist, desto mehr ist der Staat zu seiner Befriedigung berufen; je
mehr einheitliche planmäßige Organisation zu dessen Wahrung
notwendig ist, desto ausschließlicher ist sie Sache des Staates.
Diese Solidarität ist aber eine dynamische Größe, auf allen Ge-
bieten des menschlichen Gemeindaseins zu verschiedenen Zeiten
und bei verschiedenen Völkern verschieden ausgeprägt. Daher
empfängt diese Formel ebenfalls von dem jeweiligen gesamten
Kulturzustande eines Volkes ihren positiven Inhalt.
Dem die geschichtliche Entwicklung Überblickenden zeigt
sich jedoch eine sich immer stärker ausbreitende Solidarität der
Volksınteressen einerseits, der Gesamtinteressen aller Kulturvölker
anderseits. Kann man doch allen Fortschritt in der Kultur zu-
gleich als Fortschritt in dem Gedanken der menschheitlichen
Solidarıtät bezeichnen. Geschichtlich beim engsten Kreise be-
ginnend, ergreifen die solidarischen Interessen immer weitere
soziale Gruppen und nehmen nicht nur an Umfang, sondern auch
an Stärke zu. Scheinbar steht damit im Widerspruch, daß das
Individuum überall eng gebunden ist durch das Solidarinteresse
des nächsten Verbandes); dem es angehört; sowie daß Entwick-
lung der Individualität mit ebensolchem Rechte wie Steigerung
der Solidarität als Merkmal hoher Kulturstufen bezeichnet werden
kann. Allein der Gegensatz beider Phänomene ist nur eın schein-