Achtes Kapitel. Die Lehren vom Zweck des Staates. 257
niemand in ıhm ein Hecht der Rechtsbildung besitzt. Diese
Rechtsbildung jedoch übt der Staat aus nicht nur durch Abgren-
zung der individuellen Sphären, sondern auch durch rechtliche
Ordnung seiner eigenen Organisation und Tätigkeit, für welche
das Recht Maß und Schranke ist. Einseitig und falsch ist daher
die noch von Holtzendorff vertretene Ansicht), welche den
Staat in seiner dem Rechte gewidmeten Tätigkeit als nur dem
Individuum. zugewendet wähnt. Das Recht durchdringt und be.
stimmt vielmehr alle Lebensäußerungen des Staates und bildet
gleichsam die Bahnen, in denen das staatliche Leben pulsiert.
Die Art der Verwirklichung des Rechtszweckes ist aber in
einem jeden Staate durch die ganze Lage des Volkes und durch
seine internationale Stellung gegeben. Denn selbstverständlich
umfaßt der Rechtszweck an dieser Stelle nicht nur die vorhandene,
sondern auch die künftige Gesetzgebung, die den Anforderungen zu
entsprechen hat, die eine bestimmte Geschichtsepoche an die Rechts-
ordnung zu stellen berechtigt ist. Damit jedoch greift das Recht
hinüber auf ein anderes Gebiet der Staatstätigkeit. Das. Recht
ist nicht nur ein Mittel, um einen gegenwärtigen Zustand zu be-
wahren, sondern auch um an der Herbeiführung eines künftigen
mitzuarbeiten. Soweit überhaupt durch äußere Veranstaltung
Kulturinteressen gefördert werden können, ist auch das Recht ein
bedeutsames Mittel dieser Förderung, wie z. B. die neuere
Arbeiter-Schutz- und -Fürsorgegesetzgebung in den europäischen
Staaten beweist. In letzter Linie zielt allerdings auch diese
fördernde Tätigkeit neuer Rechtsinstitute auf umfassendere, gleich-
mäßigere und wirksamere Erhaltung der wichtigsten individuellen
und sozialen Güter, auf Herstellung allgemeiner Bedingungen für
die ungehemmte Entwicklung des Individuums und der Gesamt-
heit. Denn das Recht ist im letzten Grunde nicht schöpferisch,
sondern bewahrend und abwehrend. Es kann nur die äußeren
Voraussetzungen für positive menschliche Tätigkeit schaffen, deren
Inhalt stets nur durch die ganze konkrete historisch-soziale Ent-
wicklung gegeben ist. Zwar hat auch die Rechtsordnung eine
bestimmte gesellschaftsformende und umgestaltende Kraft, die
aber nur innerhalb enger Schranken sich planmäßig entfalten
kann. Das Schöpierische im Recht liegt überwiegend nicht in
seiner beabsichtigten juristischen, sondern in seiner unbeab-
sichtigten sozialen Bedeutung.
1) Politik S. 253 £f.
G. Jellinek, Allg. Staatslehre. 3. Aufl. 17