Achtes Kapitel. Die Lehren vom Zweck des Staates. ‚261
mehr durch einheitliche, umfassende Organisation, d. h. durch
Zentralisation, das in Frage stehende Kulturinteresse be-
friedigt werden kann, desto größer ist der Anspruch des Staates
und an den Staat, es ausschließlich oder doch überwiegend zu
versorgen. Daraus ergibt sich, daß der Staat auf dem Gebiete
der Kulturpflege die individuelle freie Tätigkeit teils zu ersetzen,
teils zu ergänzen bestimmt ist. Geschichtlich ist auf diesen
Gebieten die staatliche Tätigkeit überall nach der privaten ein-
getreten, derart, daß sich die Entwicklung der staatlichen Kultur-
förderung als ein fortlaufender Enteignungsprozeß gegenüber der
individuellen Tätigkeit darstellt. Vielfach sind es zunächst Ver-
bände nichtstaatlicher Art, welche die Ergänzung des Individuums
vornehmen, so daß der Staat schließlich in Ergänzung sowohl
individueller als genossenschaftlicher Tat auftritt. Wie weit die
bloß ergänzende Tätigkeit zu gehen und wo die ersetzende zu
beginnen habe, das kann nur nach der ganzen geschichtlichen
und sozialen Lage des Einzelstaates sowie der Natur des be-
treffenden Verwaltungszweiges beurteilt werden. Die Entwicklung
der neueren Zeit weist zweifellos einen fortschreitenden Prozeß
zunächst der Sozialisierung und sodann der Zentralisierung, der
„Verstaatlichung“ ursprünglich individueller Tätigkeiten auf.
Man denke nur an die heutige Heeresverwaltung und die privaten
Werbungen und Ausrüstungen der Vergangenheit. \Velchen Um-
fang diese Sozialisierung und Zentralisierung annehmen werde,
welches ihr Endziel sei, läßt sich auf Grund der uns bekannten
Weltlage ‚mit Sicherheit gar nicht bestimmen. Jedenfalls sind
besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten frei auszuüben, Beamte sind
gleich den mit obrigkeitlichen Funktionen betrauten, hat mit der in Rede
stehenden Frage gar nichts zu schaffen. Das innere Wesen der staatlichen
Funktionen zu erkennen, bietet an und für sich, ohne jede Rücksicht
auf das Beamtenrecht, genug theoretisches und praktisches Interesse.
In jüngster Zeit hat Preuß, Das städtische Amtsrecht S. 347£., gegen
diese Ausführungen und ähnliche Andeutungen von Gierke in Holtzen-
dorffs Rechtslexikon II, s. v. Gemeindebeamte, S. 50, behauptet, das Ge-
meinwesen baue und lehre, wie es richtet, befiehlt und ernennt. Die
politische Konsequenz einer solchen Lehre wäre die völlige Vernichtung
jeder geistigen Freiheit derer, die im staatlichen Auftrag höhere intellek-
tuelle Tätigkeit üben: ein Gemeinwesen, das lehrt und baut, kann auch
vorschreiben, wie zu lehren und zu bauen, wie zu malen und Tonkunst
zu üben sei. Vor solcher ‚organischer‘ Zukunft möge ein gnädiges
Geschick uns immerdar bewahren! — Der Versuch einer Lösung der
Streitfrage bei W. Jellinek Gesetz, Gesetizesanwendung S. 33 ff.