270 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
hellenischen Literatur keine Spur. Nicht minder war den Römern
die Vorstellung einer rechtlichen Entstehung ihres Gemeinwesens
fremd). Das Mittelalter hingegen kennt weder den Begriff des
selbständigen, unabhängigen Staates noch die gesonderte Existenz
des öffentlichen Rechtes. Daher kann es staatliche Neubildungen
nur als Veränderungen innerhalb des Reiches auffassen, die nach
dessen Rechtsordnung zu beurteilen, von den höchsten irdischen
Autoritäten zu billigen sind. Sodann aber erscheint der Staat
als Vertragsverhältnis zweier Parteien, des Volkes und des
Herrschers, das gegenseitige Rechte und Pflichten feststellt. Es
ist einer der merkwürdigsten Züge des germanisch -romanischen
Mittelalters, daß es selbst, von uns als brutale Willkür empfundene,
Vorgänge des öffentlichen Lebens als vom Rechte beherrscht auf-
zufassen versuchte. Beispiele hiervon bieten das Fehderecht und
sogar das harte, als unmenschliche Barbareı erscheinende Strand-
recht.
Diese Tendenz des mittelalterlichen Denkens setzt sich im
neueren Naturrecht fort, das ja bei allem Gegensatz zu der theo-
logisch -scholastischen Art des Mittelalters viele Grundzüge mit
dessen Rechtslehre gemeinsam hat. Dem Naturrecht ist die Frage
nach der Entstehung des Staates, sowohl der primären als der
sckundären, eine Rechtsfrage. Der Vertragsstaat in erster Linie,
aber auch der patriarchalische, despotische und durch Eroberung
gebildete Staat werden von ihm entweder als durch Rechts-
vorgänge gebildet behauptet oder, wenn die Theorie diese letzteren
Formen für nicht gerechtfertigt erkennt, als rechtswidrig ‚ver-
worfen.
Mit der Erkenntnis der Unhaltbarkeit der naturrechtlichen
Lehren mußte aber auch die Unhaltbarkeit aller Versuche klar
werden, die Entstehung der Staaten juristisch zu konstruieren.
Vom Standpunkte seiner Lehre aus, welche den Staat als die
Wirklichkeit der sittlichen Idee faßt, mußte Hegel entschieden
1) Pomponius L.2 81 D. de orig. iuris 1,2: „Et quidem initio
civıtatis nostrae populus sine lege certa, sine iure certo primum agere
instituit omniaque manu a regibus gubernabantur.‘“ Die längere Ausführung
von Cicero, pro Sextio c.42, schildert nur den historischen Hergang des
Staatengründungsprozesses, erwähnt aber mit keiner Silbe eines ihn be-
gleitenden Rechtsaktes. Die Bünde, welche der Sage nach bei Gründung
der Stadt abgeschlossen wurden, konnten bei dem strengen Formalismus
des alten Rechtes dem populären Denken schwerlich als Rechtsakte
erscheinen.